SAP-Tuning – Near-Site: Warum in die Ferne schweifen?

Near-Site

Programme aus Indien? Software aus China? Entwickler in Rumänien oder Russland? Miodrag Dick, CEO der Clientis AG aus Moosburg, verneint das vehement und führt im Folgenden aus, dass man auch in Deutschland innovative und kostengünstige Software entwickeln oder optimieren kann.

 

Herr Dick, die Clientis AG optimiert SAP. Muss man, wenn man ein ERP-System kauft, gleich einen Optimierer dazu bestellen? Was unterscheidet Sie von anderen SAP-Beratern? 

Die Einführung von SAP ist zumeist Standardarbeit und wird sehr gut von vielen SAP-Implementierungspartnern durchgeführt. Wir sehen die anspruchsvolle Herausforderung jedoch in der Optimierung eines bestehenden SAP-Systems. Das kommt erst im nächsten Schritt, wenn das System bereits eine gewisse Zeit läuft.

Zeigen sich bei SAP im Laufe der Zeit etwa Mängel, die Sie beseitigen müssen?

Ganz und gar nicht. SAP ist aus meiner Sicht die bei weitem beste und ausgereifteste Standardbetriebssoftware. Mit ihren vielfältigen Systemen und Komponenten bietet SAP für jeden denkbaren betriebswirtschaftlichen Prozess eine Lösung. Das Problem liegt nicht bei SAP, sondern bei den Kunden, die die enormen Möglichkeiten, die SAP bietet, nicht optimal ausschöpfen. Oft wird bei der Einführung von SAP nicht jede Empfehlung des Implementierungspartners im ersten Schritt umgesetzt – sei es aus Budgetmangel, aus Zeitgründen oder weil sich bestimmte Prozesse im Unternehmen nicht so einfach an die SAP-Welt anpassen lassen. Ist der Kunde erst mal eine gewisse Zeit mit seinem SAP-System produktiv, erkennt er oft, dass die Einführungsberater mit diversen Empfehlungen Recht hatten und ist jetzt bereit, diese Prozesse umzusetzen. Da kommen wir ins Spiel.

Woran liegt es denn, dass viele Unternehmen das Potenzial nicht voll ausschöpfen? 

Für die betroffene Organisation und die darin arbeitenden Menschen bedeutet die Umstellung auf eine Standardbetriebssoftware in der Regel einen enormen Wandel. Die Einführung neuer IT-Systeme erfordert deshalb ein großes Maß an Einfühlungsvermögen in Bezug auf Veränderung von gewohnten Handlungsabläufen. Um das Projekt als Ganzes nicht zu gefährden, werden deshalb bei der Erstimplementierung fast immer an irgendeiner Stelle Kompromisse gemacht, die sich später nur noch sehr schwer revidieren lassen. Deshalb benötigen die Unternehmen nach einer gewissen Zeit häufig einen Partner wie Clientis, der ihre Prozesse mit einem unverstellten Blick von außen analysiert und ihnen hilft, das Potenzial von SAP besser auszuschöpfen.

Hinzu kommt, dass jedes Unternehmen über die Jahre spezielle und individuelle Prozesse entwickelt, die oftmals einen echten Wettbewerbsvorteil gegenüber Mitbewerbern darstellen. Um genau diesen Unterschied auch in einem Standardsystem wie SAP wiederzufinden, gibt es dann Dienstleister wie uns, die sagen: Okay, ich höre dir zu, ich verstehe die Thematik, ich weiß, wie man es umsetzen kann, und ich entwickle dir einen Leitfaden oder ein Konzept, um deine betriebliche Individualität abzubilden, die vorhandene Situation zu analysieren, sie zu zerpflücken und zu sagen: Guck mal her, du hast hier einen Achtzylinder und fährst aber nur auf drei Zylindern. Darin sehen wir einen Teil unserer Aufgabe.

c_1-2-2016_210_zitat

Sie nehmen also eine Art SAP-Tuning vor?

Exakt. So wie der Tuning-Spezialist Serienfahrzeuge an die individuellen Wünsche und Bedürfnisse des Fahrers anpasst, so passen wir das SAP-System an die individuellen Anforderungen unserer Kunden an. Zu diesem Zeitpunkt kommt unsere Kernmannschaft ins Spiel, die die Ausarbeitung vornimmt und auch gleich im SAP-System umsetzt. Das bedeutet oft sehr viel Entwicklungsarbeit, weil neue Funktionen erarbeitet oder komplett neue Abläufe im SAP-System dargestellt werden müssen.

Was zeichnet denn Ihre Arbeit im Vergleich zu anderen SAP-Dienstleistern aus?

Dadurch, dass wir uns voll und ganz auf Optimierung von betriebswirtschaftlichen Prozessen konzentrieren, können wir viel tiefer einsteigen. Und das merken sie hinterher an der Qualität der Ergebnisse. Wenn wir den Tuning-Vergleich noch ein wenig weiter treiben, könnte man sagen: Der eine setzt einfach einen Chip ein, achtet aber nicht auf die Motor- und Getriebekennzahlen. Was passiert? Der Wagen läuft danach zwar ein bisschen schneller, aber nach kurzer Zeit kann sich das negativ auf das Getriebe auswirken oder der Motor kann erheblichen Schaden nehmen. So ähnlich verhält es sich mit SAP: Wenn Sie heute im SAP-System »herumschrauben«, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was das für Wechselwirkungen an anderen Stellen auslösen kann oder wie sich die Änderungen etwa bei Release-Wechseln auswirken, dann kann man sehr viel Schaden anrichten.

Können Sie das einmal konkretisieren?

Bei uns meldete sich einmal ein namhaftes Unternehmen aus der Nahrungsmittelindustrie, das einen Großteil seiner individuellen Prozesse bereits im SAP-System abgebildet hatte. Das System lief aber sehr holprig und wenig zufriedenstellend. Dafür gab es mehrere Ursachen. Unter anderem hatte man aus Sicherheitsgründen die ERP-Software kopiert und alle Individualisierungen nur in dieser Kopie vorgenommen. Das Ergebnis war ein typischer Fall von »Gut gemeint, aber nicht gut gemacht«. Die Folge war nämlich, dass Neuerungen, die über Release-Updates oder Patches kommen, nicht greifen konnten, weil es keine Querverbindungen zum Originalsystem gab. Man arbeitete gewissermaßen in einer abgeschotteten Parallelwelt. Wenn man es ideal machen will, muss man wohl oder übel im Standardsystem ansetzen. Dazu brauchen Sie aber einen hoch spezialisierten Partner. Dann können Sie an kontrollierten Stellen in den Exit gehen, zusätzliche Programme schreiben und an genau der gleichen Stelle wieder ins System zurückkehren. Im Ergebnis haben sie dann eine ganz kleine Nahtstelle, wissen aber genau, was an dieser Nahtstelle übergeben wird und was wieder zurückkommt.

Sie programmieren an dieser Stelle also eine Erweiterung?

Ja. Unsere Optimierungen erfolgen immer auf Basis der von SAP-definierten releasefähigen Erweiterungstechniken – also den Techniken, die auch die SAP selbst bei Erweiterungen nutzt.

Entwickeln Sie zu diesem Zweck auch eigene Funktionen, eigene Add-ons?

Das kommt immer wieder vor. Für unsere Kunden aus der produzierenden Bekleidungsindustrie haben wir beispielsweise ein ganzheitliches Flächenbewirtschaftungspaket entwickelt. Nahezu alle Markenhersteller der Branche betreiben ja heute eigene Stores oder verkaufen ihre Waren auf selbst bewirtschafteten Flächen bei großen Resellern wie Kaufhäusern. Unser Vendor-Managed-Inventory (VMI)-System hilft dabei, die Flächen mit den richtigen Waren zu bestücken. Im Standard der Bekleidungslösung AFS von SAP gibt es sowas nicht. Wir verkaufen aber keine standardisierten Bausteine, sondern entwickeln für unsere Kunden individuelle Lösungen, die genau auf ihren Bedarf angepasst werden. Das kann auch eine Rezepturverwaltung sein, die wir für einen Hersteller von Babynahrung entwickelt haben.

Worin steckt für SAP-Nutzer nach Ihrer Erfahrung das größte Optimierungspotenzial? 

Oft sind es die kleinen Dinge, die enorme Effekte haben. Wir haben zum Beispiel für einen Hersteller von Gabelstaplern eine Lösung entwickelt, die jedem Gabelstapler am Ende seiner Produktion eine Sicherheitsplakette mit den individuellen Traglastwerten verpasst. Inzwischen wird diese Lösung schon zu Beginn der Wertschöpfungskette in der Verkaufsberatung eingesetzt, wenn der Kunde einen Stapler mit definierten Fähigkeiten und Leistungen braucht. In solchen scheinbar kleinen Optimierungen steckt für die Kunden oft ungeahntes Potenzial für Kostensenkungen oder Prozessverbesserungen. Und Optimierungspotenzial gibt es überall. Aber wir haben natürlich unsere Stärken. Insbesondere im Bekleidungssektor, im Maschinenbau und im Nahrungsmittelbereich verfügen wir über viel Erfahrung.

Was halten Sie von dem Trend, immer größere Teile der Programmierung in Billiglohnländern durchführen zu lassen?

Offshore-Development ist ein zweischneidiges Schwert. Die Entwickler dort bekommen zwar niedrigere Löhne und tragen so zu günstigen Entwicklungskosten bei, aber die begleitende notwendige Organisation on top kostet dafür umso mehr und ist außerdem oft sehr zeitraubend. Aktuell tendieren viele Unternehmen  zu sogenannten Near-shore-Entwicklungen, also zu Entwicklungskapazitäten aus Länder wie Rumänien, Ungarn oder Russland. Eine Alternative war bisher die On-Site-Entwicklung, also beim Kunden direkt vor Ort. Wir gehen einen Schritt weiter und wollen mit unserem Clientis Development Optimizer zeigen, dass wir in Deutschland genauso günstig entwickeln können wie Nearshore oder Offshore, ohne dabei fulltime on-site sein zu müssen.

Ich bezeichne das als Near-SiteDevelopment, kombiniert aus Near-shore und On-Site. Entwicklungsaufgaben werden bei uns im Haus umgesetzt und mit dem Development Optimizer klappt das deutlich schneller, weil wir viele Entwicklungs- und Programmkomponenten bereits im Haus haben und für Entwicklungsaufgaben nutzen können. Wir haben Generatoren entwickelt, die diverse SAP-Technikbausteine automatisiert erstellen, sodass sie nicht immer wieder neu programmiert werden müssen. Auf diese Weise können wir die Anforderungen, die unsere Beraterkollegen draußen beim Kunden erfassen, deutlich schneller umsetzen als früher.

Obwohl Sie ausschließlich in Deutschland entwickeln, sind Ihre Kosten konkurrenzfähig?

Ja, wir wollen unseren SAP-Kunden beweisen, dass eine Entwicklung in Deutschland unterm Strich nicht teurer ist. Aufgrund der Logik, mit der wir an die Themen herangehen, aufgrund unseres Development Optimizers und aufgrund der immensen Erfahrung und Expertise, die die Leute hier im Haus haben, bin ich davon überzeugt, dass wir das locker schaffen. Außerdem haben wir den Anspruch, deutlich höhere Qualität zu bieten. Und je weiter sich unser hauseigenes Tool entwickelt, umso schneller und kreativer können wir für unsere Kunden arbeiten.

Wie sehen Ihre Ziele für die nächste Zeit aus?

Wir sehen unsere Mission im Near-Site Development, verbunden mit einer SAP-Prozessoptimierung. Intern konzentrieren wir uns auf unser sehr komplexes Entwicklungssystem, um in möglichst kurzen, schnellen Entwicklungsschritten ein optimales Ergebnis in Bezug auf Funktion und Kosten abzuliefern. Dabei leben und lieben wir dessen Individualität. Und wir testen alles auf unseren etwa 30 SAP-Systemen. Wahrscheinlich gibt es kaum einen vergleichbaren Mitbewerber, der so einen Aufwand treibt und das immer ganz nah am Kunden.

Herr Dick, vielen Dank für das Gespräch.


Das Gespräch führte Volker Vorburg.