Agiles Arbeiten und seine Grundvoraussetzungen: Der größte Fehler – die Angst vor dem Fehler

Illustration: ArtTower

Der Unterschied zwischen agilen Modellen und agilem Arbeiten liegt in der Definition. Agile Modelle beschreiben die Struktur eines definierten Projektablaufs, wie beispielsweise Scrum. Mit Scrum werden Lösungen in iterativen und inkrementellen Abläufen erstellt. Das Ziel ist dabei nicht im Voraus exakt definiert, sondern manifestiert sich erst im Rahmen der Entwicklung. Während agile Modelle die Anwendungsformen – wie die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten – darstellen, kann das agile Arbeiten mit den Abläufen in der Werkstatt und den Mitarbeitern dieser Werkstatt verglichen werden.

 

Agiles Arbeiten bezeichnet hauptsächlich die agile Kultur, welche agiles Vorgehen ermöglicht. Dazu gehören Verhaltensweisen, bestimmte Abläufe und Regeln aber auch eine agile Arbeitsumgebung, wenn es dem Ziel förderlich ist. Im Vergleich zum klassischen Projektmanagement in einer Top-down-Organisation arbeitet ein agiles Team dynamisch auf ein angelegtes Projektziel zu, ohne ein festgeschriebenes Ziel und ohne Hierarchiestufen innerhalb der Gruppe. Agiles Arbeiten setzt Eigenverantwortung, Fehlertoleranz, Offenheit und Transparenz, sowie eine starke Kommunikation voraus. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann ein agiles Team schneller, flexibler und oftmals qualitativ besser vorgehen, als klassische Projektteams.

 

Komplexe Herausforderungen brauchen flexible Arbeitsweisen

Die zunehmende Dynamik am Markt erfordert neue Arbeitsmodelle. Höher, schneller, besser lautet die Devise. Die Konkurrenz wächst in vielen Brachen, Start-ups sprießen aus dem Boden und qualifizierte Mitarbeiter sind stark umworben.

Klassische Top-down-Organisationen sind oftmals zu langsam und starr und kommen mit den neuen Marktanforderungen nicht zurecht. Die Verantwortung liegt bei wenigen Einzelnen und eine offene Fehlerkultur wird nur selten gelebt. Kein Wunder also, dass sich viele Unternehmen agiler aufstellen und ein agiles Arbeiten fördern möchten. Wichtig ist es, dafür eine agile Arbeitsumgebung und ein gemeinschaftliches Grundverständnis zu schaffen.

Eigenverantwortliches und ergebnisorientiertes Arbeiten steht bei der agilen Vorgehensweise im Vordergrund. Agile Teams arbeiten nach Zielen und nicht nach festgelegten langfristigen Planungen, wie im klassischen Projektmanagement. Der Weg zum Projektziel ist komplett dem Team überlassen. Der Kunde wird eng mit einbezogen und an ihm wird das zu erreichende Ziel ausgerichtet. Es gibt keinen klassischen Projektleiter. Die Rolle, die der Projektleiter im traditionellen Projektmanagement innehat, wird auf verschiedene Rollen aufgeteilt; so trägt jeder im Team einen Teil der Verantwortung für den Erfolg des Projekts. Die Gruppe muss sich selbst befähigen, Konsens zu schaffen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen sowie eine offene Fehlerkultur und Kommunikation zu leben.

Wann, was und wie es gemacht wird, entscheidet das Team autark. Für das Management ist dies die größte Herausforderung. Es muss die nötigen Voraussetzungen schaffen, sodass es dem Team möglich ist, Verantwortung zu übernehmen und frei zu arbeiten. Aus Vorgaben und deren Kontrolle wird Unterstützung und Schaffung der notwendigen Bedingungen für ein agiles Vorgehen. Aus der Frage nach der Deadline im klassischen Projektmanagement, wird die Frage zur Unterstützung des Teams: »Was braucht ihr, um erfolgreich arbeiten zu können?« Ein hierarchisches Unternehmen muss dabei einen Mindset Change durchlaufen. Agiles Arbeiten bedarf zwar weiterhin einer Führungskraft, doch diese muss Verantwortung delegieren und das Team zur Selbstorganisation mit einem hohen Autonomiegrad befähigen. Während das agile Team so Stück für Stück mehr Verantwortung übernimmt, muss die Führungskraft diese abgeben. Sollte das Management seine Denkweise nicht anpassen, wird in der Organisation keine agile Arbeitsweise möglich sein.

 

Die Befähigung zur Verantwortungsübernahme

Vor allem Fehlertoleranz und Selbstorganisation müssen erst erlernt werden. Anfängliche Fragen wie: »Dürfen wir das?« oder »Können wir das?« verschwinden automatisch im Lernprozess. Wichtig ist, dass agiles Arbeiten nicht sofort reibungslos vorausgesetzt werden kann. Es bedarf kleiner Bausteine und einer sukzessiven Befähigung des Teams. Die Gruppe muss erst Selbstvertrauen entwickeln, bis sie komplett eigenverantwortlich handeln und geübt die agilen Methoden anwenden kann.

In jedem agilen Team gibt es Experten in den notwendigen Disziplinen: Denn wichtig für die Wertschöpfung ist, dass in autonomen und selbstorganisierenden Teams alle notwendigen Ressourcen und Kompetenzen zur Erstellung der Lösung vorhanden sind. Das Team wird passend zum jeweiligen Projektziel zusammengestellt, dabei entscheidet die Gruppe selbst, wann es komplett ist und welche Kompetenzen noch fehlen. Dabei müssen nicht alle Mitglieder aus einer Abteilung kommen. Bei der Entwicklung eines neuen Produkts beispielsweise können fachfremde Mitarbeiter im Team oft guten Input liefern und wirken entgegen der Betriebsblindheit.

Vorgesetzte müssen sich im Projekt zurücknehmen und es ist von größter Bedeutung, dass alle auf Augenhöhe arbeiten, um ein rollengerechtes Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln. Dies lässt sich an der agilen Scrum-Methode verdeutlichen: Die Rolle, die der Projektleiter im klassischen Projektmanagement innehat, wird auf den Scrum Master, Product Owner und das Entwicklungsteam aufgeteilt. Der Product Owner hat die Aufgabe, die anstehenden Aufgaben im Produktbacklog nach dem Wert der Lösungen für den Kunden zu priorisieren. Der Scrum Master wiederum sorgt dafür, dass das Team agil arbeiten kann. Er kommuniziert in Richtung der Stakeholder und schafft eine Arbeitsumgebung, in der verantwortungsbewusstes und freies Arbeiten möglich wird. Das Entwicklungsteam, welches aus Generalisten und Spezialisten besteht, organisiert sich selbst und arbeitet funktionsübergreifend das Backlog ab. Durch die Mischung aus Entwicklern und Fachleuten im Team wird die Effizienz der Arbeit gesteigert und neue Synergien entstehen.

 

Die Angst vor dem Fehler ist der Fehler

Diese Gestaltungsfreiheit erlaubt hohe Freiheitsgrade, die auch zur Konsequenz haben können, dass das Team einen falschen Weg zum Projektziel einschlägt. Deshalb werden die Ergebnisse permanent überprüft und konsequent korrigiert. Dies bietet einen großen Vorteil im Vergleich zum klassischen Projektmanagement: Während hier die Verantwortung bei nur einer oder wenigen Personen liegt, werden Fehler oft nicht zugegeben und gegebenenfalls sogar das Projektziel angepasst, um die Arbeitsergebnisse zu rechtfertigen. Im agilen Team hingegen werden die Zwischenergebnisse ständig durch die anderen Teammitglieder und den Kunden überprüft. Die Arbeitsergebnisse werden dem Ziel angepasst, wobei das Team durch die konsequente und offene Kommunikation ständig lernt. Durch die permanente Verbesserungskultur werden Fehler schnell erkannt und behoben und können damit das Projektziel nicht mehr gefährden.

Ein strikter Projektplan, wie im traditionellen Projektmanagement, kann auf Veränderungen oft nur schwer reagieren. Es kommt zu Verzögerungen bei der Einführung, da die Projektphasen nacheinander abgeschlossen werden müssen. Eine verspätete Produkteinführung bringt einen erheblichen Wettbewerbsnachteil mit sich. Dank der offenen Kommunikation und dem Lernprozess, den das agile Team in einem Projekt durchläuft, kann es performant auf das festgelegte Ziel zusteuern und kann durch die kurzen, überschaubaren Arbeitspakete trotzdem extrem flexibel auf geänderte Wettbewerbsanforderungen, Kunden- oder Nutzerbedürfnissen reagieren.

Auch mental bietet die agile Arbeitsweise Vorteile: Durch die Aufteilung der Verantwortung auf das gesamte Team und ein gelebtes Veränderungsmanagement entwickeln sich neue Synergien, eine positive Stimmung sowie eine hohe Eigendynamik innerhalb der Gruppe.

 

Agilität muss gelebt werden

Eines ist offensichtlich, Agilität kann nicht angeordnet werden. Das ist besonders in Top-down-Organisationen ein großes Problem. Agiles Arbeiten nur als leere Worthülle zu verwenden reicht nicht. Man muss Agilität als Unternehmen leben. Oft sind die Voraussetzungen nicht gegeben und müssen erst geschaffen werden. Um agil zu werden benötigt es eine Art Ausbildungsprogramm. Es ist wichtig, dass in allen Hierarchiestufen Mitarbeiter geschult sind, wissen was Agilität bedeutet und die Möglichkeit haben, mit kleinen Projekten agiles Arbeiten zu erlernen. Das gemeinsame Verständnis von Agilität ist Grundvoraussetzung für eine agile Arbeitsweise. Das Management muss das Thema Agilität ziehen und vollständig hinter diesem Ansatz stehen. Es kann nicht Top-down angeordnet werden – muss aber Top-down gelebt werden. Der Ablauf ist somit auf dem Papier einfach: Nachdem das Management agiles Arbeiten verstanden und akzeptiert hat, müssen geeignete Projekte identifiziert werden. Idealerweise fängt man mit einem kleineren Projekt im Sinne eines »Leuchtturmprojekts« an. In einem solchen Projekt kann man die Methode erklären und schulen, die agile Arbeitsumgebung schaffen und erste Erfahrungen sammeln. Dann heißt es: Feedback, Anpassen, Lernen und das nächste Projekt starten. Stück für Stück können so agile Projekte in der Organisation ausgerollt werden.

Agile Arbeitsweisen müssen Teil der gesamten Unternehmenskultur werden, sie können nicht in einzelnen Unternehmensteilen existieren. Wichtig ist, über die Komponenten Strategie, Aufbauorganisation, Prozesse, Führung und HR die zukünftige agile Kultur als Basis für die agile Organisation auszuprägen. Gelingt das, ist das Unternehmen in der Lage, in einer turbulenten, nicht vorhersehbaren Umwelt nicht nur mit zu schwimmen, sondern diese auch aktiv mitzugestalten.

Da man sich zu Beginn mit der Umstellung auf eine agile Organisation schwertut, ist eine externe Beratung gerade in den Anfangszeiten als Guide sehr sinnvoll. Zum einen ist es gut, wenn eine »neutrale« Partei einen Puffer zwischen althergebrachten Mechanismen und dem neuen agilen Team bildet, zum anderen müssen auch die Arbeitsweisen der agilen Methoden geschult werden, was gut über Vorbildfunktionen funktioniert.

Um bei dem Scrum-Beispiel zu bleiben, ist es oft vorteilhaft, den Scrum Master als externe Kompetenz mit ins Team zu holen, um den restlichen Teammitgliedern die nötige Sicherheit und Befähigung zu vermitteln. Auch beim Product Owner lohnt sich externe Unterstützung. Die externe Kompetenz bringt Geschwindigkeit und Erfolg für die ersten Pilotprojekte. Diese ersten »Leuchtturmprojekte« sind auschlaggebend und sollten als Lernprozesse gesehen werden. Viele Leute im Unternehmen, auch die Kritiker, werden aufspringen, wenn sich der Erfolg erst einmal einstellt. Nach den ersten kleineren Projekten wird sich das agile Mindset mehr und mehr im Unternehmen ausprägen.

 

Vorteile eines agilen Unternehmens

Wenn ein Unternehmen sich dazu entschließt, seinen Mitarbeitern Verantwortung zu geben, die diese angstfrei wahrnehmen können, kommen Lösungen und Ergebnisse zustande, die für viele unvorstellbar gewesen wären. Ein Mitarbeiter, der Verantwortung trägt, wird immer effizienter sein, als einer, der Befehle abarbeitet. Denn ihm ist nicht egal, welches Ergebnis dabei herauskommt. Eine schnelle, unbürokratische Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen kann Mauern zwischen Abteilungen einreißen. Das fördert fachübergreifendes Arbeiten und neue Perspektiven. Hindernisse werden abgebaut und ein transparenter Wissensaustausch ist möglich.

Auch im Recruiting bietet Agilität Vorteile für Unternehmen, denn sie erzeugt eine hohe Attraktivität bei qualifizierten und engagierten Mitarbeitern. Ein agiles Unternehmen bietet attraktivere Voraussetzungen sowie eine offene und bessere Arbeitskultur – gerade in der Mitarbeitergewinnung stellt dies ein großes Plus dar.

Agile Methoden ermöglichen laufend Produkt- und Prozessverbesserungen. Dank der Arbeit in kleineren Zyklen ist ein agiles Unternehmen reaktionsfähiger und sicherer bei Produkteinführungen. Durch die angstfreie Kommunikation und die Akzeptanz von Fehlern werden Produkte und Prozesse im agilen Arbeitsumfeld besser und effizienter. Viele Unternehmen lassen sich aus Angst, das Falsche zu tun, lähmen. Ein gutes Beispiel dafür ist das agile Growth Mindset von Microsoft. Während sich der Software-Riese als Learn-it-all (also als eine lebenslang lernende Person) begreift, konnte er gegenüber anderen Unternehmen, die sich als Know-it-all (also als Person, die von sich glaubt, bereits alles zu wissen) enorme Wettbewerbsvorteile ausbauen und Rekordumsätze verzeichnen. Entgegen klassischen Organisationen mit statischem Selbstbild, wird in einem agilen Arbeitsumfeld der Fehler als Chance begriffen. Daraus resultiert als Fazit, dass der größte Fehler ganz offensichtlich die Angst vor dem Fehler ist.

Ludger Vieth, IT-Management, CONSILIO GmbH

www.consilio-gmbh.de

 

 

 

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