Energiewende Bottom-up und Full Speed

Illustration: Absmeier, Colin00b

 

  • VDE, GreenTEC Campus, BSKI und MIT bekräftigen Schulterschluss bei der Energiewende
  • Deutschland/Europa kann durch politische-gesellschaftliche-technologische Souveränität wieder internationale Alternative auf Augenhöhe im Spannungsdreieck Digitalisierung-Dekarbonisierung-Souveränisierung werden

 

Um sich aus der Abhängigkeit von Russland und Asien bei der Energieversorgung zu lösen, muss die Energiewende jetzt „bottom-up“ und „at full speed“ vollzogen werden. Dass kurzfristig eine beschleunigte Selbstversorgung mit Erneuerbaren Energien (EE) sowohl im Kilowatt- als auch im Megawattbereich möglich ist, zeigten die Technologieorganisation VDE, der GreenTEC Campus, der Bundesverband für Kritische Infrastrukturen (BSKI) sowie das Massachusetts Institute of Technology (MIT) heute bei der Pressekonferenz anlässlich der Hannover Messe. Hierzu müssen Industrie, Städte und Kommunen ihre bestehenden Flächen besser nutzen und für Erneuerbare Energien zur Verfügung stellen. Der Genehmigungsprozess sowie der Netz- und Speicherausbau müssen beschleunigt und Wasserstoff muss kostengünstig hergestellt werden. „Die Willigen müssen wir durch Endbürokratisierung unterstützen und Genehmigungsprozesse verschlanken und beschleunigen. Wenn wir an einem Strang ziehen, sind wir in der Lage, uns komplett autark mit Erneuerbaren Energien zu versorgen und das kurzfristig“, waren sich VDE, GreenTEC Campus und BSKI einig. Um Lieferketten zu stabilisieren und Technologie-Know-how und -Transfer auszubauen, müssten Europa und die USA hierfür enger zusammenrücken und ihre Stärken ausspielen, ergänzte das MIT

Die komplette Eigenversorgung in Deutschland ist in den nächsten Jahren möglich. Allerdings muss verstärkt in eine dem Markt und den Rahmenbedingungen angepasste Exzellenzforschung, unter anderem bei der Speicherkapazität und der Anpassung der Netze, investiert und die europäische EE-Industrie gestärkt werden. Die für die Energiewende dringend benötigten Investoren gibt es. „Wir müssen sie nur jetzt mit den entscheidenden Unternehmen sowie Start-ups in Kontakt bringen. Der VDE als neutrale technisch-wissenschaftliche Organisation bietet hier die Plattform zur Vernetzung“, sagte Burkhard Holder, VDE Renewables. Er sei mit Familienstiftungen bereits in Kontakt. Die größere Herausforderung sei allerdings, die Fachkräfte zu rekrutieren.

 

Jedes Dach nutzen

Um unseren gesamten Energiebedarf aus EE zu decken, ist ein massiver Ausbau der PV-Leistung notwendig, neben einer Reihe weiterer Maßnahmen. In den letzten Jahren wurden nur maximal 5 GWp pro Jahr installiert. Um aufzuholen ist gerade im PV-Bereich ein Bottom-up Ansatz notwendig. Ein riesiges, ungenutztes Potential bieten Industrie, Städte und Kommunen. Sie müssen ihre bestehenden Flächen – auf Industrie- und Handelsdächern, über Parkplatzflächen, an Autobahnen oder auch Tagebauseen – besser nutzen und für PV-Anlagen zur Verfügung stellen. „Viele Industrie- und Handelsunternehmen haben den Vorteil bereits erkannt. „Es ist Zeit, dass Erneuerbare Energien auch flächendeckend in Deutschland eingesetzt werden“, mahnt Holder und fügt hinzu: „Und um mit einem Märchen aufzuräumen: Volatiler Solarstrom gefährdet nicht die Versorgungssicherheit. Diese konnte mit dem Ausbau der Photovoltaik sogar verbessert werden. Von ehemals etwa 30 Minuten Störungsdauer pro Jahr, sind wir heute bei rund zehn Minuten.“

 

Produktionskapazitäten in Europa ausbauen

Der Ausbau mit Photovoltaik muss schnell voranschreiten – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Dies bedeutet insbesondere für Europa, dass die Lieferketten entlang der Photovoltaikproduktion gesichert werden müssen. Derzeit besteht eine große Abhängigkeit von Lieferungen aus dem asiatischen Raum. Wie schädlich solche Abhängigkeiten sind, zeigen die Gaslieferungen aus Russland. Daher gilt es die industrielle Fertigung in Europa wieder zu stärken. Aufgrund der hervorragenden Forschungsinfrastruktur, einem modernen Maschinenbau und dem wachsenden Heimatmarkt ist Europa und speziell Deutschland in einer guten Position. Politische Unterstützung z.B. durch Important Projects of Common European Interest – IPCEI, analog zum Aufbau der Batteriefertigung, sind Maßnahmen, um die industrielle PV-Produktion in Deutschland und Europa zu beschleunigen und damit die langfristige Energiesouveränität zu gewährleisten.

 

Windkraft zum Verbraucher führen

Für die Versorgungssicherheit unabdingbar ist die Windkraft. Und für diese wiederum angepasste Netze und Speicherinfrastruktur. Allein in Schleswig-Holstein gibt es seit Jahren erhebliche Potenziale in der Windstromerzeugung, die durch Abregelung der Anlagen und noch nicht vorhandener, angepasster Netze und Speicherinfrastruktur ungenutzt sind. „Der Stromverbrauch in Schleswig-Holstein wird nicht real zeitgleich, aber immerhin rein rechnerisch zu rund 160 Prozent durch Windkraft gedeckt“, rechnete Marten Jensen, GreenTEC Campus, vor. „Allerdings mussten die Windparks zum Teil tagelang abgeschaltet werden, nur weil die Netze nicht ausreichen und Speicher fehlen. Gleichzeitig haben wir eine katastrophale regenerative Unterversorgung in den Sektoren Wärme und Verkehr“, machte sich Jensen Luft. Er sieht die Zeit gekommen für einen Neuanfang. „Wir zeigen täglich auf unserem Campus, wie der Überschuss-Strom auf die Sektoren Verkehr und Wärme sowie den neuen Sektor Rechenzentren überführt werden kann. Wenn alle Erzeuger effizient zusammengeschaltet werden, können wir Stromschwankungen intelligent ausgleichen.“ Hier ist ein richtiger Mix aus großen und kleinen Windkraftanlagen sowie dezentralen und lokalen Erzeugern notwendig. Was können wir zusätzlich aus der Krise lernen – Handlungsdruck, für beschleunigte und kombinierte Energie- und Mobilitätswende hin zu einer Symbiose beider Bereiche. Jensens Vision ist, dass die Elektromobilität als Notstromaggregat mobil verfügbar ist: „Man muss sich bewusst machen, dass heute mit den 620.000 zugelassenen Fahrzeugen in Deutschland, bei einer durchschnittlichen Batteriekapazität von 55 kWh, bereits 34.000 MWh an mobiler Energie unterwegs sind.“

 

Wasserstoff als Schlüsseltechnologie

Wasserstoff ist eines der Schlüsselelemente in der Energiewende. Damit sich Wasserstoff als Energieträger flächendeckend durchsetzen kann, gilt es, ihn zu marktwirtschaftlichen Preisen, in ausreichender Menge und klimaneutral herzustellen. Schwerpunkt ist dabei die Elektrolyse. Der so gewonnene grüne Wasserstoff ist saisonal zu speichern und zu den Verbrauchern zu bringen. Die Verbraucher gibt es in allen Sektoren, egal ob Rückverstromung ins Netz, Brennstoffzellenmobilität oder im Wärmesektor – die zeitliche und örtliche Entkopplung der Produktion in EE-Anlagen von der Nutzung beim Verbraucher ist einer der größten Vorteile. Dafür sind kostengünstige, sichere Wasserstoffspeicher und Transportsysteme genauso erforderlich wie Brennstoffzellen und neue Prozesse in den energieintensiven Industrien. Für den Import des Wasserstoffs und dessen Verteilung müssen bereits jetzt Hydrogen-Terminals geplant werden. Obwohl Deutschland dabei gut aufgestellt ist, gilt es jetzt, die bereitgestellte Technologie im gesamten Energiemarkt zu etablieren, auch über die Anschubfinanzierung hinaus. Hierzu entwickelt der VDE maßgeschneiderte Lösungen für die Finanz- und Versicherungswirtschaft und deren Kunden.

 

Zurück auf Start

Corona und der Krieg in der Ukraine haben dem Westen die Auswirkung einer enormen Abhängigkeit von instabilen Lieferketten und nicht disruptionsfesten Quellen vor Augen geführt. Der Westen ist aus dem Dornröschenschlaf aufgewacht. Die Anzahl von Produktionsstätten für EE oder Mikrochips ist massiv gestiegen. Unternehmen wie beispielsweise Meyer Burger im PV-Bereich, Bosch in den Bereichen Mikroelektronik und Wasserstoff zeigen, dass Europa zurückkehrt. „Es geht nicht um De-Globalisierung. Es geht darum, dass Deutschland/Europa durch politische, gesellschaftliche und technologische Souveränität im Spannungsdreieck Digitalisierung-Dekarbonisierung-Souveränisierung wieder international auf Augenhöhe ist. Damit wir unsere Rolle als Vermittler und Gestalter zwischen den beiden Weltmächten USA und China wahrnehmen können, kommen wir nun endlich aus unserem Pantoffelkino mit Cola in der linken Hand und Popcorn in der rechten heraus“, zog Ansgar Hinz, CEO der VDE Gruppe, das Schlusswort. Vizekanzler und Wirtschaftsminister, Robert Habeck, ergänzte in seiner Botschaft an VDE, GreenTEC Campus, BSKI und MIT: „Eine beschleunigte Energiewende ist das A und O für eine günstige, unabhängige und sichere Energieversorgung. Die Digitalisierung bietet die Grundlage mit den dafür notwendigen Technologien all dies zu vernetzen. Dies führt dann auch zu einer Souveränisierung und Disruptionsfestigkeit in Deutschland, Europa und der Welt.“

 

Über den VDE
Der VDE, eine der größten Technologie-Organisationen Europas, steht seit mehr als 125 Jahren für Innovation und technologischen Fortschritt. Als einzige Organisation weltweit vereint der VDE dabei Wissenschaft, Standardisierung, Prüfung, Zertifizierung und Anwendungsberatung unter einem Dach. Das VDE Zeichen gilt seit mehr als 100 Jahren als Synonym für höchste Sicherheitsstandards und Verbraucherschutz. Wir setzen uns ein für die Forschungs- und Nachwuchsförderung und für das lebenslange Lernen mit Weiterbildungsangeboten „on the job“. Im VDE Netzwerk engagieren sich über 2.000 Mitarbeiter*innen an über 60 Standorten weltweit, mehr als 100.000 ehrenamtliche Expert*innen und rund 1.500 Unternehmen gestalten im Netzwerk VDE eine lebenswerte Zukunft: vernetzt, digital, elektrisch. Wir gestalten die e-diale Zukunft. Sitz des VDE (Verband der Elektrotechnik Elektronik und Informationstechnik e.V.) ist Frankfurt am Main. Mehr Informationen unter www.vde.com

 


 

Cybersecurity und Fachkräftemangel größte Herausforderung bei Energiewende

 

 

Heute gaben auf der Hannover Messe die Technologieorganisation VDE, der GreenTEC Campus und der Bundesverband für den Schutz kritischer Infrastrukturen (BSKI) bekannt, dass die komplette Energiewende – Energieversorgung aus 100 % erneuerbare Energien – innerhalb von wenigen Jahren möglich sei. Vorausgesetzt es fänden sich genügend Investoren sowie Fachkräfte. An ersterem zweifeln VDE, GreenTEC Campus und BSKI nicht, an letzterem schon. Um die Energiewende in Gänze zu vollziehen, bedarf es dringend Fachkräfte im Bereich Energietechnik, IT, Maschinenbau und Informatik. Während die Informatik aufgrund »hipper Themen« wie künstliche Intelligenz oder Big Data immer größeren Zulauf erhält, sinken die Zahlen in der Elektrotechnik und im Maschinenbau. Vor allem in der Elektrotechnik nimmt die Kluft zwischen der erfolgreichen Ausbildung von Studierenden und dem steigenden Bedarf dramatische Ausmaße an. Zu diesem Ergebnis kommt die VDE Studie Arbeitsmarkt 2022. Fakt ist, dass analog zum Trend des software driven engineering der Anteil der Hardware als wichtiger integraler Bestandteil wächst. Software arbeitet ohne high-end Hardware nicht.

»Wir brauchen einen Imagewechsel in der Elektrotechnik, um mehr Schülerinnen und Schüler für ein Studium zu ermuntern. Gleichzeitig muss die Mathekompetenz in den Gymnasien gesteigert werden, die Abbruchquote ist mit über 50 % in der Elektrotechnik zu hoch«, zitierte Burkhard Holder von VDE Renewables aus der VDE-Studie. Fakt sei: Ohne Hardware keine Software.

 

Cybersicherheit: VDE, BSKI und GreenTEC Campus bilden Quereinsteiger aus

Mit der Energiewende steigt der Digitalisierungsgrad. Mit der größer werdenden Anzahl dezentraler Strukturen nimmt damit auch die Gefahr für Disruptionen zu. Vor allem Windparks böten Hackern Angriffsfläche. »Wenn wir hier nicht nachlegen und Fachkräfte ausbilden, sehe ich ernsthafte Probleme durch Cyberangriffe, die z. B. ganze Windparks außer Betrieb setzen und als Folge dann zu Blackouts führen«, sagte Marten Jensen vom GreenTEC Campus. Damit es nicht dazu kommt, baut sein Campus zusammen mit dem VDE und dem BSKI derzeit IT-Ausbildungsprogramme zur Cybersicherheit und zum Schutz kritischer Infrastruktur auf. Jetzt müssen nur noch die Interessenten für die Ausbildung her.

Großes Potenzial sehen die drei Organisationen bei den Beschäftigten des Rheinischen Braunkohlereviers. »Nicht jeder muss studierter Informatiker sein. Quereinsteiger bilden wir in unseren IT-Ausbildungsprogrammen zur Cybersicherheit und zum Schutz kritischer Infrastruktur entsprechend für ihre Tätigkeiten weiter«, erklären VDE, GreenTEC Campus und BSKI unisono. Gemeinsam mit der Quirinus Akademie in der Geschäftsstelle des BSKI im Braunkohlerevier werden vor Ort die entsprechenden Programme aufgebaut. Im Jahr 2021 waren etwa 18.000 Personen (einschließlich Beschäftigter in den Braunkohlekraftwerken der allgemeinen Versorgung) im Braunkohlenbergbau in Deutschland beschäftigt (Statista 2022). Hier bedarf es einer konkreten Weiterbildung, um die Herausforderungen im Braunkohlerevier zu bewältigen.

Vor allem Kommunen seien kritische Infrastrukturen, da sie für die Daseinsvorsorge für die Bevölkerung zuständig sind, inklusive Krankenhäuser, Wasser- und Stadtwerke. Hier müsse innerhalb der Kommunen ein Sicherheitsnetzwerk aufgebaut werden, um eine zentralisierte Abwehrstrategie zu entwickeln. Und dafür bedarf es Personal.

 

Investoren und Versicherer fordern Standards und Zertifizierung

Um die regionale und lokale Energieversorgung zusätzlich zu schützen und Investoren sowie Versicherern Sicherheit zu geben, legen VDE, die Unternehmen der Energiewirtschaft und das Bundeswirtschaftsministerium derzeit die technischen Eckpunkte und die daraus resultierenden Standards des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) fest. »Wir wollen mit implementierten Sicherheitsprozessen und Methoden und einer professionell durchgeführten Zertifizierung der Prozesse, z. B. nach ISO 27001, Investoren, Versicherern und der Industrie Vertrauen in ihrer Entscheidungsfindung geben«, erklärte Burkhard Holder, VDE Renewables.