Additive Fertigung im Gesundheitswesen – Das Skelett aus dem Drucker

Der 3D-Druck revolutioniert die Medizin: Individuell angepasste Prothesen, Zahnkronen, Fingerglieder von Exoskeletten oder Nachbildungen von Beweisstücken in der Gerichtsmedizin: Der 3D-Druck eröffnet dem Medizinbetrieb eine Fülle von Anschauungsmaterial für die Ausbildung von Studierenden, die Behandlung von Patienten und die Beweisführung bei Gerichtsprozessen.

Es war ein »Hammermord«: Ein Täter hinterlässt mit seiner Mordwaffe Spuren im Schädeldach seines Opfers. Doch wie demonstriert man vor Gericht die Abdrücke des Hammers in der Schädeldecke? In diesem authentischen Fall fertigten Experten CT-Scans von der Schädeldecke des Erschlagenen an und konvertierten sie in eine 3D-Datei, so dass eine digitale 3D-Druckvorlage entstand. Anhand der ausgedruckten Schädeldecke konnte im Gerichtssaal das vermeintliche Tatwerkzeug mit den Abdrücken abgeglichen werden, die es im Schädeldach hinterlassen hatte. Dieses und andere Verbrechen sind nachzulesen in »HIEB § STICH. Dem Verbrechen auf der Spur«, von Navena Widulin. Das Begleitbuch illustriert die gleichnamige Ausstellung im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin 2016 über aktuelle Verfahren in der Forensik, unter anderem die 3D-Drucktechnologie. Als 3D-Druckverfahren kam das 3D- Multi-Jet-Printing zum Einsatz. Bei diesem Verfahren werden Tröpfchen des Baumaterials selektiv aufgetragen, so dass beim 3D-Objekt eine hohe Detailtreue erreicht werden kann. 

Das Beispiel des Hammermords zeigt exemplarisch, dass spätestens durch den 3D-Druck Mediziner, Forensiker und Ingenieure zusammenarbeiten werden und müssen. Deshalb gehört der 3D-Druck in die medizinische und forensische Ausbildung. Die Medizinlabore werden ihre 3D-Fähigkeiten zur besseren Bedienung von Krankenhäusern und Arztpraxen erweitern. Krankenhäuser und Krankenhausgruppen werden sicher abhängig von der Größe vermehrt interne 3D-Labore aufbauen, nicht nur um in Krisenzeiten wie Corona unabhängiger zu agieren.

Von Augen- und Zahnprothesen zur Sci-Fi-Wirklichkeit. Wünschenswert wären zur Verbesserung der Operationsqualität in den Krankenhäusern gesetzliche Vorgaben für den 3D-Druck von patientenindividuellen Modellen zumindest für ausgewählte Operationen. Denn hier haben sich im Laufe der letzten Jahre weltweit enorme Fortschritte vollzogen. Folgende »Ersatzteile« und Hilfsmittel kommen inzwischen aus dem 3D-Drucker: Knie- und Hüft-, Hand- und Beinprothesen, Exoskelette (wir kennen sie aus Science-Fiction-Filmen, die Stützskelette sind aber auch schon als Gehhilfen im Einsatz), Gesichts-, Kiefer-, Schädel- und Knochenimplantate, Kronen, Brücken, Modelle für Kieferimplantate, Kontaktlinsen, Augenprothesen und andere Sehhilfen sowie Brillengestelle – um nur einige Beispiele zu nennen. 

3D-gedruckte Anatomiemodelle bewähren sich in der Ausbildung ebenso wie in der Operationsplanung. Studien haben gezeigt, dass Operationen, die anhand eines 3D- gedruckten Modells geplant wurden, zeitsparend sind und für den Patienten mit geringerem Trauma einhergehen. Skelette, Schädel-, Brustkorb-, Becken- und Tumormodelle können inzwischen ebenso im 3D-Druck hergestellt werden wie Kieferimplantate, Haut, Gewebe, Organe oder Protein-Modelle.

Über Prothesen, Implantate, Hilfsmittel und Modelle hinaus bietet die 3D-Technik aber auch komplett neue Verfahren für medizinische Forschung und Routine, beispielsweise ein 3D-gedrucktes Impfstoffpflaster als Alternative zur Impfspritze. Im sogenannten »Bioprinting« werden Organe, Haut und Gewebe hergestellt, um Pharmazeutika zu testen. Auch DNA-Stränge können im Biodruck-Verfahren »ausgedruckt« werden – im Fachjargon heißt das »additive Fertigung«. 

3D-gedruckte Anatomiemodelle. 3D-Anatomiemodelle bieten Ärzten, Studierenden, medizinischem Personal, Patienten und deren Angehörigen viele Vorteile. Betroffene und ihre Angehörigen verstehen den bevorstehenden Eingriff besser, das Chirurgenteam kann die Operation präziser planen, Ausbildende können den Studierenden die Vorgänge wirklichkeitsnah präsentieren. Anhand dieser Modelle ist es Ärzten möglich, Patienten im Voraus über das Vorgehen bei einer Operation aufzuklären, mögliche Risiken anschaulich darzustellen und die beste OP-Option zu wählen. Bei besonders komplizierten Operationen ist dies ebenso von Vorteil wie bei Routineeingriffen, bei denen die Verweildauer im OP einen wichtiger Wirtschaftlichkeitsfaktor für ein Krankenhaus darstellt. Mit 3D-Drucktechnologien können individuelle, lebensechte Anatomiemodelle schnell, präzise und kostengünstig hergestellt werden. Patientenspezifische Anatomiemodelle ermöglichen eine präzise Vorplanung des Eingriffs und erleichtern die Diskussionen zwischen Experten unterschiedlicher Fachbereiche. Das Resultat: verringerte OP-Zeiten, Reduzierung der Risiken sowie kürzere Genesungszeiten.

 

Forscher der Nottingham Trent University erstellten mit Hilfe von Industriepartnern eine 3D-gedruckte Nachbildung eines menschlichen Körpers in Originalgröße mit einem funktionierenden künstlichen Herzen und einer Lunge, um angehende Chirurgen auf reale Operationen im späteren Beruf besser vorzubereiten.

 

»Atmende« Übungskörper aus dem Drucker. In der Ausbildung von Chirurgen gehört das Aufschneiden von leblosen Körpern zur Routine, doch Leichen sind nicht immer leicht zu bekommen. Dieses historische Dilemma – schon Leonardo da Vinci hatte Probleme mit der Beschaffung von toten Körpern – lässt sich heute mit höchst wirklichkeitsnahen 3D-Modellen lösen. Forscher der Nottingham Trent University in Großbritannien erstellten mit Hilfe von Industriepartnern eine 3D-gedruckte Nachbildung eines menschlichen Körpers in Originalgröße mit einem funktionierenden künstlichen Herzen und einer Lunge, um angehende Chirurgen auf reale Operationen im späteren Beruf besser vorzubereiten. Der 3D-gedruckte Körper wurde aus einer Mischung verschiedener Silikongele und Fasern hergestellt und lässt sich wie der Körper eines echten Patienten aufschneiden. 

Gegenüber toten Körpern bietet das 3D-Modell sogar den Vorteil, dass Blutverlust und Atmung simuliert werden können. Pumpt man künstliches Blut in das Modell, um den Blutverlust in Echtzeit nachzustellen, erleben die angehenden Chirurgen, wie schnell sie handeln müssen, um einen Patienten am Leben zu erhalten. Pumpt man Luft in die Lunge, wird das Modell aufgeblasen und entleert, als wäre es ein echter, atmender Patient.

Um den 3D-gedruckten »Patienten« zu erstellen, wurden CT-Scans von echten Herzen, Lungen und Blutgefäßen angefertigt. Zudem wurden verschiedene Silikonqualitäten verwendet, so dass jedes Organ sehr realistisch aussieht. Die verschiedenen Teile der einzelnen Organe wurden auch so konstruiert, dass sie, entsprechend den realen Körperteilen, die sie darstellen, unterschiedliche Härtegrade aufweisen.

 

Mit 3D-Drucktechnologien können individuelle, lebensechte Anatomiemodelle schnell, präzise und kostengünstig hergestellt werden.

 

Hospifactories und digitale Marktplätze der Medizin. Doch woher kommen die 3D-Modelle? Manche Krankenhäuser besitzen ein intern aufgebautes 3D Service Center, die Coronakrise beförderte diese Entwicklung. In Frankreich investierte der größte europäische Krankenhausverbund »Assistance Publique – Hôpitaux de Paris« (AP-HP) in 60 FDM-3D-Drucker der Firma Stratasys. Durch den Einsatz der 3D-Drucktechnologie in dieser Größenordnung verfügt die AP-HP über eine schnell reagierende interne Lieferkette, die dafür sorgt, dass wichtige Geräte schnell in den Händen des medizinischen Personals landen, um täglich Leben zu retten.

Kliniken, die nicht über eine eigene »Hospifactory« verfügen, können einen digitalen Marktplatz besuchen. Auch in der Medizinindustrie liefern digitale Marktplätze zahlreiche 3D-Vorlagen zum kostenlosen Download sowie Konvertierungsmöglichkeiten von CT- oder MRT-Daten in 3D-Dateien. Bei Letzteren müssen mehrere dicht nebeneinanderliegende Scans aufgenommen werden, um mit Algorithmen ein 3D-Modell für den dreidimensionalen Druck zu erzeugen. Je nach 3D-Drucktechnologie kann dann einfarbig oder mit mehreren Farben oder mit mehreren Materialien gedruckt werden.

Die größte und am schnellsten wachsende Bibliothek von 3D-druckbaren anatomischen Modellen ist bei Embodi3D verfügbar, einer Online-Community für biomedizinische 3D-Drucke. Registrierte Mitglieder können dort kostenlos eigene medizinische Scans in eine STL-Datei für den 3D-Druck umwandeln und ihre Dateien verkaufen. Weitere Optionen wie unbegrenzte Downloads und Konvertierungen erhalten Premium-Mitglieder gegen eine Gebühr. 

Ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Marktplätze ist das schwedische Startup CELLINK, inzwischen in BICO Group (»Bioconvergence«) umbenannt. BICO bietet 3D-Biodrucker und deren Zubehör sowie 3D-Biodruck-Services an. Der Name CELLINK AB bleibt für die Bioprinting-Aktivitäten weiterhin bestehen. Das Unternehmen führt unter anderem eine leicht zugängliche Open-Source-Datenbank für 3D-Modelle. Diese Datenbank ist ein »Bioversum« für die Bioverse 3D-Bioprinting-Community. 3D-CAD-Modelle, Protokolle und andere Ressourcen werden auf Bioverse 3D kostenlos geteilt. 

 

Segmentierungsoperation von siamesischen Zwillingen in Israel. Es kamen mehrere 3D-gedruckte Modelle zum Einsatz, die es den Neurochirurgen ermöglichten, die Blutgefäße der Zwillinge genau zuzuordnen.

 

Siamesische Zwillinge im 3D-Modell. Von welcher Bedeutung 3D-Modelle bei sehr komplizierten Eingriffen sein können, zeigt eine Segmentierungsoperation von siamesischen Zwillingen, die 2021 in Israel Aufsehen erregte. Miteinander verwachsene Zwillinge teilen sich häufig Organe und Gefäßstrukturen, was ihre Trennung extrem erschwert. In Israel kamen mehrere 3D-gedruckte Modelle zum Einsatz, die es den Neurochirurgen ermöglichten, die Blutgefäße der Zwillinge genau zuzuordnen. Die Modelle wurden magnetisch verbindbar und voll beweglich gefertigt, um den Chirurgen eine möglichst realitätsnahe Simulation des Eingriffs zu ermöglichen. Ein weiterer Vorteil des Einsatzes der MJF-Technologie bei der Herstellung der 3D-Modelle sind die verwendeten Materialien, die eine Lackierung der Modelle ermöglichen. Sie können darüber hinaus sterilisiert und somit sicher in der Nähe des Operationsfeldes platziert werden.

Eingebunden in die Vorbereitung der OP-Planung wurde die Expertin Limor Haviv, Gründerin des chirurgischen 3D-Druckunternehmens 3D4OP. Limor Haviv arbeitet als chirurgische Spezialistin in Krankenhäusern in ganz Israel. Sie hilft Chirurgen, sich mithilfe von 3D-Modellen, basierend auf CT- und MRT-Scans der Patienten, auf Operationen vorzubereiten. So entsteht ein neues technisches Beratungsfeld mit enormem Potenzial an der Schnittstelle zwischen Chirurgen und dem spezialisierten 3D-Druckdienstleister.

 


Martin G. Bernhard ist Geschäftsführer der
ECG ­Management & Advisory Services und Gastprofessor
für additive Fertigung an der staatlichen Universität
von Montes Claros in Brasilien. Darüber hinaus ist er
Management-Berater für Technologiethemen wie
additive Fertigung, Robotik, künstliche Intelligenz,
Digitalisierung und für IT-Management-Themen. 

 

Illustrationen Skelettteile: © SciePro, Coffeemill, belekekin/shutterstock.com