Satire – Unsocial Media – Der Mob von heute ist digital

Satire – Unsocial Media

Das tägliche Leben im IT-Management ist härter als jede Dschungelprüfung. Heutige Prüfung: Social Media.

Am Anfang ist es wie immer: wer hat alle Trends verschlafen? Das ist natürlich eine selbsterfüllende Prophezeiung. Was darf man im Unternehmen denn auch vom Dinosaurier erwarten, vom HSV unter den Abteilungen? Man kann ja nicht ehrlich glauben, dass die Herren, die sich seit Jahrzehnten als Träger von Rauschebärten, Cordhosen und Birkenstock-Sandalen in ihren Höhlen sämtlichen Avancen der Evolution beharrlich widersetzen, irgendetwas von den modernen Geschäftserfordernissen der Gegenwart verstehen.

Social Media? Nie gehört. Natürlich nicht. Die besagte Spezies ist ja auch eher darauf bedacht, die elektronische Datenverarbeitung vom »bösen« Internet abzuschotten. Insofern brauchen Sicherheitslücken auch gar nicht gestopft zu werden, denn der Hacker von heute kennt kein VMS mehr. Und z/OS zu erlernen, dazu fehlt die Zeit, die Muße und der Wille. Unbegreiflich also, dass ein Unternehmen auf Facebook, Twitter und Co. präsent sein muss, auch wenn hier weder unternehmerischer Mehrwert noch Umsatz generiert wird. Aber nein, das »writeln (‚Hello, world!‘);« von heute ist mindestens als Twitter-Konto anzulegen. Doch kann das mit den Urzeitgesteinen realisiert werden, die Facebook für eine neue Anti-Pickel-Creme halten? Nein, diese Frage wird in keinem Unternehmen ernsthaft gestellt.

Da die eigenen Kollegen also denkbar ungeeignet sind (quod erat demonstrandum), die – auch ohne interne IT meist gar nicht vorhandene Social-Media-Strategie im Unternehmen zu definieren, geschweige denn umzusetzen, werden externe Profis verpflichtet, das Unternehmen im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen. Dabei scheint es, dass hierbei ebenfalls Spezialisten der Informationstechnologie außen vor gelassen werden. Das ist nur logisch, denn wenn im eigenen Unternehmen die IT bei Zukunftsthemen versagt, dann bestimmt auch bei anderen Unternehmen, und dazu zählen schließlich auch IT-Dienstleister und IT-Beratungen. Mit Bezug auf Social Media verschiebt sich der Fokus der Expertise, auf einmal sind es Werbe- und PR-Agenturen mit ihren kompetenten und korrekt gegelten Mitarbeitern, welche an vorderster Technologiefront das Sagen haben. Apropos Front: schnelle Umsetzung, schnelle Erfolge, nur wer schnell ist, gewinnt. Die Dinosaurier mit ihren Sicherheitsbedenken wollen ja nur verhindern und die schöne neue Welt gar nicht wahrhaben. Und so liegt auch die weitere Betreuung der Systeme in der Hand der neuen, der wahren IT: der glorreichen Ritter der sozialen Medien.

Der »Shitstorm«. Doch irgendwann kommt es zum Eklat. Nicht innerhalb des Unternehmens, sondern mit der Masse der Nutzer draußen in den unendlichen Weiten von Raum und Zeit. Der »Shitstorm« ist das reinigende Gewitter der digitalen Welt. Dabei bedarf es keiner modernen Propheten, um dies vorauszusagen. Eigentlich würde es sich eher empfehlen, das Berufsbild eines Social-Media-Meteorologen oder eines Internet-Seismologen zu schaffen. Die Genauigkeit der Prognosen der Kollegen aus der »echten« Welt wird vermutlich locker erreicht werden, denn die Reaktionen sind zum großen Teil selbst für Laien glasklar vorhersehbar. Das Unwetter zieht am Horizont auf, entlädt sich einige Tage lang und verschwindet dann wieder, als hätte es nie einen Grund zur Aufgeregtheit gegeben.

Kern des Problems ist immer dieser Grund der Aufgeregtheit – und der ist in der Regel null und nichtig, also nichts, was eine Aufregung lohnt. Die Liste ist lang: ein lockerer Spruch (merke: nur HRH Prince Philip, Duke of Edinburgh, hat im 21. Jahrhundert noch das Recht, politisch unkorrekte Aussagen zu treffen, mit seinem Ableben gibt es dann kein Lebewesen mehr, welches dies ungestraft machen darf), ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat, ein Werbespruch der Marketing-Fritzen. Eigentlich ist jeder Anlass gut genug.

Ist eine Shitstorm-geeignete Sentenz erst einmal in den sozialen Medien dokumentiert, dann gibt es kein Zurück mehr, auch wenn es manchmal Monate oder gar Jahre dauert, bis der Stein des Anstoßes einem Internet-Troll im Weg liegt und er sein kleines Hirn daran stößt. Froh darüber, dass das langweilige Leben zumindest für ein paar Stunden aufregend wird, wird der Aufreger über alle Kanäle geschossen und der gelangweilte Internet-Mob greift dankbar das Thema auf, aus der Lethargie gerissen und dann geht es los, Knüppel aus dem Sack. Manchmal werden dann üble Erinnerungen an die Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts wach – nur dass der Pöbel sich inzwischen selbst organisiert (und sich demokratisch nennt) und nicht mehr von Demagogen gesteuert wird. Und damit den sozialen Charakter (oder woher stammt sonst das Präfix »social«) ad absurdum führt? Andere Meinungen werden gar nicht erst toleriert, sondern einfach nur niedergeschrie(b)en. Alle jenen möchte man Pestalozzi entgegenbringen: »Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, wenn Ihr die Starken schwächt«. Aber das ginge im digitalen Geschrei unter.

Das Schöne jedoch am Sturm ist im realen Leben wie in der digitalen Welt: Nach jedem Sturm scheint wieder die Sonne. Es gibt dennoch einen entscheidenden Unterschied: Während im realen Leben keiner wegen eines Sturms zurücktreten muss oder ein Schuldiger am Sturm gesucht wird, ist es beim Shitstorm anders: wenn auch absolut unnötig, muss ein Kopf rollen, jemand bestraft werden. Warum? Weil außer der IT keiner die Gesetze in der virtuellen Welt zu verstehen scheint.

Wer ist Schuld? Und am Ende ist es wie immer: Wen trifft die Schuld? Natürlich die IT. Sie ist still geblieben und hat nicht gewarnt vor der bösen wilden Welt dort im Internet. Sie hat eigentlich überhaupt nichts getan. Sie hat sogar die Deppen aus dem Marketing mit ihren Social-Media-Umtrieben gewähren lassen und ist nicht eingeschritten. Und das ist abgrundtief böse und schlecht von ihr. Also entlädt sich ein weiterer Shitstorm – und Ziel ist die IT.

Bleibt zum Abschluss nur eine einzige winzige Frage: Wird diese Kolumne einen Shitstorm auslösen? Die Antwort lautet: natürlich nicht. Denn der gemeine Internet-Pöbel hat diese Kolumne entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Ende gut, alles gut.


autor_christph-luederChristoph Lüder,
LEXTA CONSULTANTS GROUP,
Berlin

 

 

 

Illustration: © Tlex; Blablo101/shutterstock.com 

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