Living Organisation – Teamdenken als Erfolgsfaktor in der digitalen Transformation

Digitalisierungsprojekte scheitern immer wieder an der Akzeptanz der Mitarbeitenden. Ebenso wichtig wie die richtige Technologiestrategie ist deshalb eine Change-Begleitung, die Menschen wirklich involviert und eine neue Team- und Leadership-Kultur etabliert.

In den letzten Jahren haben Komplexität, Geschwindigkeit und Dynamik in den meisten Branchen immer weiter zugenommen. Digitalisierung ist eine wichtige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit: Es geht um mehr Transparenz und Agilität, vorausschauende Planung auf der Basis fundierter Daten und stärkere Prozessautomatisierung, nicht zuletzt, um den Fachkräftemangel abzufedern. Zugleich erfordert die digitale Transformation Zeit, Ressourcen und die echte Bereitschaft zur Veränderung. Die Praxiserfahrung und Studien zeigen gleichermaßen: Veränderung gelingt nur mit und nicht gegen die Menschen im Unternehmen wirklich gut. »Die technologischen Entwicklungen in den Betrieben erfordern eine drastische Veränderung der Arbeitskultur – ohne diese Veränderung kann diese Entwicklung nicht gelingen«: Zu diesem Schluss kommt beispielsweise die Studie »Erfolgskriterien betrieblicher Digitalisierung« der Bertelsmann Stiftung.

Ganz wichtig ist dabei, dass die Menschen die Notwendigkeit einer Veränderung nicht nur kognitiv verstehen, sondern auch emotional an Bord sind. Im Transformationsprozess braucht jede Person eine positive Perspektive für sich selbst, das Wissen, was es ihr konkret bringt, sich daran zu beteiligen.

Mitmachpotenzial statt fertiger Strategie. Ein Austausch über die Dinge, die den Mitarbeitenden auf menschlicher Ebene wichtig sind, aber auch gegenseitiges Zuhören und Wertschätzung, sind nicht nur eine wichtige Grundlage für eine gute Atmosphäre im Unternehmen. Auf dieser Basis entsteht überhaupt erst die Verbindung von persönlicher Intention und einer gemeinsamen Vision. Eine gute Moderation sollte dafür sorgen, dass alle Teilnehmenden den Raum haben, sich zu öffnen und ihre Sichtweisen zu teilen. Wird so eine Richtung und Vision festgelegt, kann auch später, wenn es vielleicht einmal schwierig wird, auf diese gemeinsame Erfahrung zurückgegriffen werden. So werden Veränderungsprozesse deutlich nachhaltiger.

Die Geschäftsleitung und das C-Level unterschätzen in der Praxis sehr häufig, dass es für eine echte Veränderung nicht ausreicht, Informationen einige Male frontal per E-Mail oder in Versammlungen zu kommunizieren. Indem CEOs fertig ausformulierte neue Guidelines oder eine ausgearbeitete Digitalstrategie per Powerpoint präsentieren, entsteht noch keine Veränderung. Das geschieht erst, wenn Menschen diese Informationen in den persönlichen Kontext setzen und praktische Erfahrungen machen. Dazu müssen jedoch geeignete Räume und Formate geschaffen werden, damit die Mitarbeitenden in kleineren und größeren Gruppen diskutieren, Themen gemeinsam erarbeiten und visualisieren können. Echter Wandel gelingt dann, wenn Menschen nicht nur intellektuell, sondern emotional involviert sind, weil sie dabei auch eigene Bedürfnisse umsetzen und ihren Anteil an der gemeinsamen Anstrengung verstehen.

Organisationsveränderung auf jedem Level. Derzeit erleben viele Unternehmen, dass der Druck steigt. Einerseits will man sich mehr auf Mehrwerte für und die Bedürfnisse der Kunden fokussieren, muss sich schneller auf Marktveränderungen ausrichten. Andererseits werden bestehende Organisationsstrukturen aufrecht erhalten, die nicht für diese Dynamik ausgelegt sind. »Digitalisierung kann nicht erfolgreich sein, wenn nur eine oberflächliche Technisierung durchgeführt wird, ohne dass Hintergrundprozesse und Rollen verändert werden«, stellt die Studie der Bertelsmann Stiftung auch klar.

Das Konzept der »Living Organisation« eignet sich besonders gut, um eine flexiblere, agilere Organisationsstruktur aufzubauen, die Veränderung aus sich heraus erzeugt und von außen aufgreift: Lebende Organismen passen sich auch immer weiter evolutionär an wechselnde Umstände an.

Alte Flaschenhälse abbauen. Ein Bottleneck sind fast immer die Entscheidungsstrukturen. Entscheidungen werden meist zentral an wenigen Stellen getroffen, oft in Leitungsfunktionen, die weit weg von der eigentlichen Situation sind. Das führt regelmäßig dazu, dass die Menschen im Unternehmen, die konkret in ein Projekt oder Thema involviert sind, einige Entscheidungen nicht nachvollziehen können. Agile Methoden setzen darauf, Entscheidungen in die möglichst eigenverantwortlichen, autonomen Kompetenzteams zu verlagern, die ein Projekt bearbeiten.

Führung wird dabei zur Teamkompetenz: Die Führungsverantwortung hängt nicht mehr an einer Rolle, sondern verteilt sich auf unterschiedliche Kompetenzen. Dafür muss jedoch auch die Gesamtorganisation so aufgestellt werden, dass sie der Neuausrichtung nicht entgegenläuft. Oder anders gesagt: Wenn die kollektive Intelligenz im Unternehmen genutzt werden soll, dann braucht es auch Strukturen, die dieses Ziel unterstützen.

Auf dem Weg zur Kompetenzhierarchie. Eine neue Kultur bedeutet, dass klassische Führungskräfte auch Macht und Kontrolle abgeben. In neuen Konzepten werden beispielsweise manche Positionen besetzt, indem kompetente Mitarbeitende hineingewählt werden. Einige Rollen werden auf Zeit vergeben. Das bietet einerseits Raum für Mitarbeitende, Erfahrungen mit unterschiedlichen Rollen und Perspektiven zu sammeln. Letztlich geht damit ein Wandel von Macht- hin zu Kompetenzhierarchien einher. Auch hier gibt es bedeutungsvolle Rollen, die mit einem hohen Reifegrad einhergehen und viel Gewicht im Unternehmen haben.

Das ist erst einmal insbesondere für diejenigen schwierig, die sich stark an Karrierepfaden orientiert haben. Doch in der Praxis zeigen sich gerade in diesem Kontext überraschend positive Reaktionen. So war in einer Umfrage bei der Tochter eines Automobilkonzerns, die sich innerhalb eines knappen Jahres auf die Organisationsform »Living Organisation« umgestellt hat, die Akzeptanz erstaunlich hoch. Trotz umfassender Veränderungen haben weniger als ein Prozent der Mitarbeitenden das Unternehmen verlassen. Die Mehrzahl der Befragten hat bestätigt, dass sie in der neuen Struktur relativ schnell Aufgaben für sich gefunden haben, die ihren Stärken und Leidenschaften noch besser entsprechen.

Transformationsziele nachhaltig verankern. Nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei: Oft wird nur ein Bruchteil der eigentlichen Digitalisierungsziele erreicht. Es braucht neben einer guten Change-Kultur vor allem einen sehr langen Atem, sowohl bei den Sponsoren, als auch bei den Treibern der Transformation. Gerade dort, wo es nicht nur um kleine Veränderungen geht, sondern um das Erreichen einer neuen Entwicklungsstufe, wird man auf Hürden treffen. Hier sollte nicht gleich die Flinte ins Korn geworfen werden, wenn nicht alles sofort funktioniert. Vor allem braucht es eine »Reinforcement-Strategie«, damit das Erreichte nicht gleich wieder in alten Gewohnheiten verloren geht. Nicht vergessen: Veränderung ist ein zartes Pflänzchen. Bevor daraus mindestens ein kleiner Baum geworden ist, sollten Sponsoren nicht davon ausgehen, dass alles von selbst läuft. Ganz wie beim Diät-Jojo-Effekt besteht die Gefahr, wieder in alte Muster zurückzurutschen. Dagegen hilft, Erfolge ordentlich zu feiern, die das Erreichte bewusst machen und Rituale wie Retrospektiven können helfen, den gewählten Pfad weiterzugehen.

 


Andreas Eichhorn,
Business and Transformation Coach
und Managing Partner der
Beratungssparte Business Design
der COSMO CONSULT Gruppe

 

Illustration: © first vector trend /shutterstock.com