»Chinas Führung hat Angst vor gesellschaftlicher Destabilisierung«

Am 1. Mai feiern Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen weltweit den Tag der Arbeit. Auch in China werden zum »Laodong Jie« offizielle Gebäude mit Blumen und Parolen geschmückt. Doch die schwierige Wirtschaftslage zieht die Arbeitnehmer zunehmend in Mitleidenschaft. Wachsende Unzufriedenheit über ausbleibende Lohnzahlungen und schlechte Arbeitsbedingungen entlädt sich inzwischen regelmäßig in Streiks. Partei und Staat versuchen mit allen Mitteln, Unruhen zu vermeiden.

Fragen an Simon Lang, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am MERICS:

Allein in diesem Jahr sind in China etwa tausend Streiks und Arbeiterproteste registriert worden. Viele entstehen spontan – was steht hinter diesen Unruhen?

Derzeit streiken vor allem Angestellte in Privatunternehmen aus dem Baugewerbe und der Fertigung. Wegen des verlangsamten Wirtschaftswachstums und der rückläufigen Exporte hat es dort viele Entlassungen gegeben, oder Löhne wurden nicht gezahlt. Die Situation hat sich verschärft: Früher protestierten unzufriedene Arbeiter vor allem für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld. Heute sind viele schlichtweg verzweifelt, weil sie monatelang gar keinen Lohn erhalten haben und nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. In einer so bedrohlichen Situation nehmen viele Arbeiter in Kauf, dass ihnen bei einem Streik Repressionen von Seiten des Arbeitgebers oder des Staats drohen.

Wie laufen diese Arbeitsniederlegungen ab, wie organisieren sich die Streikenden?

Unzufriedene Beschäftigte und entlassene Arbeiter protestieren oft spontan. Jüngere Arbeitnehmer wissen heute mehr über ihre Rechte als ihre Eltern. Sie haben höhere Erwartungen und mehr Selbstbewusstsein. Die Koordination von Protestaktionen ist durch die Verbreitung von Smartphones einfacher geworden. Meist beginnt ein Arbeitskampf mit einer kleinen Gruppe. Die Organisation bleibt aber schwierig, da Absprachen in größerer Runde riskant sind. Viele Proteste versanden auch deshalb, weil keiner der Initiatoren bereit ist, die Verhandlungen mit dem Management zu übernehmen. Arbeitnehmervertretungen gibt es außerhalb des Gesamtchinesischen Gewerkschaftsbundes nicht, und der will – ganz im Sinne der chinesischen Führung – vor allem den sozialen Frieden wahren.

grafik merics china streikt

Wie reagiert die Regierung auf solche Proteste?

Die Lokalregierungen versuchen mit allen Mitteln, öffentliche Unruhen zu vermeiden. Sie haben Angst vor einer Ausweitung von Streiks. Entstanden ist eine Art Politik von »Zuckerbrot und Peitsche«: Örtliche Kader setzen Arbeitnehmer und Arbeitgeber unter Druck, Kompromisse zu finden. Die Staatsmacht schreckt auch nicht davor zurück, mit Polizeigewalt gegen Streikende vorzugehen, um sie von der Straße zu bekommen.

Unternehmensführungen versuchen hingegen, protestierende Arbeiter zu spalten, indem sie manchen Anführern individuelle finanzielle Angebote machen. Staatsunternehmen wiederum bemühen sich, Streiks vorzubeugen. So sollen Ausgleichszahlungen, Frührenten und Teilzeitarbeit die sozialen Folgen bei Entlassungen gering halten. Gegen Arbeitsrechtsaktivisten hingegen geht die Regierung hart vor, zuletzt gab es zahlreiche Festnahmen.

Die Regierung plant nach eigenen Angaben 1,8 Millionen Entlassungen in der Stahl- und Kohleindustrie. Inwieweit verzögert die Angst der Regierung vor mehr sozialer Unruhe die geplanten Strukturreformen in den Staatsbetrieben?

Medien haben unter Berufung auf interne Quellen berichtet, dass in unrentablen Staatsunternehmen binnen der nächsten zwei oder drei Jahre sogar sechs Millionen Arbeitsplätze gestrichen werden sollen. Das Ministerium für Personal und Soziale Sicherheit hält sich mit Details bislang zurück. Chinas Führung hat Angst vor einer gesellschaftlichen Destabilisierung und wird versuchen, Proteste abzuwenden. Sie versucht, sich Ruhe auf dem Arbeitsmarkt zu erkaufen: Im April gaben sieben Ministerien bekannt, dass umgerechnet knapp 1,35 Milliarden Euro bereitgestellt werden für Frühverrentungen, Umschulungen und Zuschüsse für IT-Firmen, die Industriearbeiter einstellen. Es ist aber sehr fraglich, ob Stahl- und Kohlearbeiter fortgeschrittenen Alters durch Kurse zu Unternehmern oder Dienstleistern gemacht werden können. Falls sich trotz dieser Maßnahmen in den kommenden Monaten Arbeiterunruhen wieder – wie Ende 2015 – häufen, wird die Regierung viele der völlig ineffizienten Zombie-Unternehmen einfach weitermachen lassen. Die Reformen werden sich verzögern.

Was bedeuten denn die anhaltenden Arbeiterunruhen für ausländische Unternehmen?

Ausländische Unternehmer, die auf Kooperationen mit von Streiks betroffenen Firmen angewiesen sind, müssen sich auf unterbrochene Lieferketten und Verzögerungen einstellen. In dem derzeit sehr angespannten Klima steigt die Streikbereitschaft auch in ausländischen Unternehmen. Nicht auszuschließen ist, dass die parteistaatlichen Medien bei anhaltenden Streiks ausländische Firmen zu Sündenböcken erklären, um von Verfehlungen auf Seiten der Regierung oder der Partei abzulenken.

Die Kommunistische Partei Chinas definierte sich in ihrer Gründungsphase als Partei der Arbeiter, Soldaten und Bauern. Wenn jetzt landesweit Arbeitnehmer auf die Straße gehen, inwieweit gefährdet das ihren Herrschaftsanspruch?

Streiks von Arbeitern in Staatsunternehmen bieten in der Tat eine ideologische Angriffsfläche für Kritiker der chinesischen Führung. Streikende Arbeiter sind derzeit auf nationaler Ebene noch keine größere Gefahr für die KPC: Sie stellen kaum politische Forderungen, sind selten landesweit vernetzt.

Die Gefahr liegt eher darin, dass die chinesische Führung ihr Versprechen eines bescheidenen Wohlstands für alle nicht mehr erfüllen kann: Hinzu kommt: Die soziale Kluft wächst. Wenn ein Manager bis zu zehn Mal mehr verdient als sein Angestellter – das ist heute keine Seltenheit – sorgt das für Unmut, und schadet dem Ansehen der Kommunistischen Partei.

Text- und Bildquelle: https://www.merics.org/