Im Rahmen der 19. IFF–Wissenschaftstage des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg fand die 9. Fachtagung »Anlagenbau der Zukunft« unter dem Motto »Anlagenbau 4.0 – Stand und Perspektiven« statt. »manage it « nutzte die Gelegenheit für ein Gespräch mit dem Institutsleiter Professor Michael Schenk. Am Fraunhofer IFF wird bereits seit Ende der 90er Jahre zu den Themen Digitalisierung und Vernetzung von Produktionsprozessen geforscht.
Herr Professor Schenk, Industrie 4.0, lässt sich das definieren?
Wir sind hier seit Jahren im Anlagenbau und im Anlagenbetrieb zu Hause. Wir haben Ende der 90er Jahre angefangen – damals gab es den Begriff Industrie 4.0 noch gar nicht – für den Aufbau des mitteldeutschen Chemie-Dreiecks die Digitalisierung der Auftragsabwicklung zu übernehmen. Das Ziel war es, regionale, mittelständische Unternehmen zu befähigen, sich als Lieferant in einer digitalen Zulieferkette zu qualifizieren. Damals war der Anlagenbau viel weiter als etwa die Automobilindustrie. Deswegen haben wir gesagt, wenn wir eine Chance haben, über die Digitalisierung von Produktion zu sprechen, dann ist der Großanlagenbau derjenige, welcher am weitesten und am schnellsten dabei vorankommt.
Heute wollen wir auf Basis der Digitalisierung Ansätze finden, wie man Industrie 4.0 für den Betrieb, für den Umbau, Rückbau, Erweiterungsbau nutzen kann. Das bedeutet, wir benötigen für die digitale Vernetzung und Steuerung Modelle, die die Physik der Anlagen oder Maschinen wiedergeben. Wir müssen die Anlagen, die Produktionssysteme, die wir Industrie-4.0-fähig machen wollen, in Echtzeitmodellen beschreiben und simulieren können. Das haben wir sehr früh betrieben. Aber wir haben noch eine Menge zu tun.
Was gehört alles dazu?
Beispielsweise die Standardisierung der Softwarewelten und ihre Vernetzung. Wenn wir als Ingenieure eine Anlage oder Maschine konzipieren, dann sind daran viele unterschiedliche Fachbereiche beteiligt. Sie alle haben digitale Werkzeuge, um ihre jeweilige Domäne zu planen und auszulegen. Aber diese Werkzeuge kann ich nicht ohne Weiteres domänenübergreifend verknüpfen, weil sie unterschiedlich skaliert sind, gar keine gemeinsame Semantik haben. Und jetzt muss ich die auch noch online-fähig machen, das ist eine große Herausforderung.
Das ist doch eine Aufgabe für die IT?
Das betrifft, Sie haben vollkommen Recht, mehrere Disziplinen. Gefragt sind zunächst die Ingenieure, die den virtuellen Zwilling der realen Anlage in ein Modell bringen müssen. Um die geforderte Interoperabilität herzustellen, braucht es im Weiteren jedoch gemeinsame Plattformen. Hier sind die IT-Spezialisten gefordert. Das Fraunhofer IFF hat unter anderem deshalb ein virtuelles Entwicklungs- und Trainingszentrum gebaut und zusätzlich gemeinsam mit der Universität Magdeburg einen entsprechenden Studiengang eingerichtet, in dem wir Ingenieure und Informatiker in dieser Richtung ausbilden.
Wie relevant ist das für den Mittelstand?
Der Mittelstand ist fraglos noch anderen Rahmenbedingungen ausgesetzt als Großkonzerne. Investitionen in Forschung und Entwicklung etwa müssen sich häufig wesentlich schneller rechnen. Ein Beispiel: Uns bat ein Mittelständler um Hilfe, der spezielle Produkte in Losgröße eins fertigt. Jeder Fehler an seinen Werkstücken wurde sehr teuer. Gemeinsam haben wir ein Augmented-Reality-Assistenzsystem entwickelt, das auf der Basis der individuellen Konstruktionsdaten und mit Kamerasystemen und Bildschirmen dem Monteur am Arbeitsplatz exakt beschreibt, wie er vorzugehen hat. Fehler werden ihm sofort angezeigt und er kann noch im gleichen Arbeitsschritt nachbessern. In der Folge sank die Fehlerquote gegen Null und die Investitionen haben sich rasch amortisiert. Dies ist eine gewinnbringende punktuelle Lösung, die man als einen Schritt in Richtung Industrie-4.0-Assistenzsystem bezeichnen kann.
Solche Assistenzsysteme gehören immer dann zu Industrie 4.0, wenn wir nicht in der Lage sind, eine vollautomatisierte Lösung herzustellen. Wir bekommen ein ernstes Problem, wenn die Komplexität dessen, was der Mensch leisten muss, immer weiter zunimmt, er jedoch auf der anderen Seite keine Unterstützung erhält. Wir laufen Gefahr, den Menschen psychisch unter Druck zu setzen und zusätzlich Fehler zu provozieren. In dem Beispiel geben wir ihm jedoch mittels der AR-Lösung eine optische Hilfe, die durch zusätzliche Anleitungen ergänzt wird. Solche Lösungen können heute auch dazu beitragen, die Attraktivität von zunehmend als unattraktiv empfundenen Arbeitsplätzen wieder zu erhöhen.
Lässt sich die entstehende Datenflut anders beherrschen als mit einer Cloud-Lösung?
Die Vernetzung ist ja ein wesentliches Charakteristikum von Industrie 4.0. Die dabei zu bewältigenden Datenmengen werden aber tatsächlich zu einer sehr großen Herausforderung. Hier sind neue Formen von Cloud-Technologien, Kommunikations- und Informationsplattformen gefragt. Die IT spielt da eine wichtige Rolle. In künftigen Industrie-4.0-Netzwerken werden wir in vielen Fällen außerdem im Sekunden- oder gar Millisekunden-Bereich reagieren müssen. Die klassische Netzwerkarchitektur wird dafür oftmals nicht ausreichen, weil das Auswerten der erhobenen Daten und die gesamte Netzwerkkommunikation zu viel Zeit beanspruchen. Zusätzlich benötigen wir darum auch dezentrale Lösungen vor Ort. Es ist spannend, in dem Zusammenhang über Echtzeitsimulationen nachzudenken, die es erlauben, jede relevante Situation in der Produktion und der Supply Chain parallel digital abzubilden, um darüber die realen Prozesse auszusteuern und zu regeln.
Sie arbeiten in einem gemeinsamen Projekt mit der Cosmo-Consult-Gruppe, Europas größtem Microsoft ERP-Partner, an einer digitalen Baustelle. Was wollen Sie mit diesem Projekt erreichen?
Die »Digitale Baustelle – Industrie 4.0« ist ein tolles Gemeinschaftsprojekt, das mich absolut beeindruckt und begeistert. Hier wollen wir die Machbarkeit einer vollständig durchgängigen Nutzung und Vernetzung der digital verfügbaren Daten aus einem industriellen Vorhaben, etwa dem Bau einer Produktionsanlage, erforschen und ein Prototypenmodell entwickeln, das von der Entwicklung und Konstruktion über die gesamten logistischen Abläufe bis hin zur Baustelle alles erfasst. Und zwar mit möglichst allen relevanten Teilprozessen, Bauteilen, Werkzeugen usw. Wenn man nur daran denkt, wie viele unterschiedliche Gewerke, Personen und Firmen, wie viel unterschiedliches Material und Werkzeuge auf größeren Baustellen im Einsatz sind und koordiniert werden müssen … Klappt das nicht vernünftig, haben wir in Deutschland aktuell beste Beispiele dafür, was passiert. Unser Projekt ist darum sehr komplex und beinhaltet mehrere große Arbeitspakete, die wir in Stufen bearbeiten.
Eine zentrale und sehr anspruchsvolle Herausforderung wird die Entwicklung einer Infrastruktur zur gemeinsamen Kommunikation, eine Kollaborationsplattform, sein. Die nächste Herausforderung besteht darin, das Ganze echtzeitfähig zu machen. Ich muss zudem die ganze Logistik auf der Baustelle besser in den Griff bekommen. Gelingt es uns, diese Transparenz herzustellen, können wir, wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, von 30 Prozent Effektivitätssteigerung und nach Möglichkeit null Fehlern ausgehen. Anschließend müssen wir die Erkenntnisse auf ähnlich gelagerte Fragestellungen übertragen. So wird die Zusammenarbeit mit uns für Cosmo Consult interessant und umgekehrt ist dies auch für uns von Vorteil, weil wir von so einem erfahrenen IT-Partner neue Logiken und neue Modelle kennenlernen, die unser Know-how ebenfalls anreichern.
Herr Professor Schenk, immer wieder wird gesagt, dass Industrie 4.0 auch neue Geschäftsmodelle braucht. Was muss man sich darunter vorstellen?
Mit Industrie 4.0 wird sich wohl auch die Art und Weise, wie Industrieunternehmen künftig Geld verdienen, zumindest in Teilen verändern. Statt Produkte nur zu verkaufen, werden wahrscheinlich auch Leasingmodelle und vor allem produktbezogene Dienstleistungen wichtiger. Dabei kommt insbesondere den Daten, die wir an den Maschinen und Anlagen gewinnen und die wir über die Vernetzung weltweit jederzeit auslesen und zur Verfügung stellen können, eine zentrale Rolle zu.
Nehmen Sie etwa einen deutschen Hersteller technisch hochwertiger Produkte. Der hat den Service für seine komplexen Systeme wahrscheinlich outgesourced. Leider landen damit alle Erkenntnisse und Daten, die die Servicetechniker vor Ort bekommen, nicht mehr bei ihm. Er kann diese nicht mehr zur Verbesserung seiner Produkte nutzen. Mit Industrie 4.0 ist er in der Lage, die Daten und damit Wissen zu seiner Anlage weltweit zurückzugewinnen. Darauf kann er neue Geschäftsmodelle aufbauen. Denn die präzisen Informationen zum Anlagenoutput, zur Verfügbarkeit oder der Energieeffizienz lassen sich auf unterschiedlichste Weise monetarisieren. Wenn wir das nicht umsetzen, werden wir uns viele Chancen verbauen.
So wie etwa beim Flugzeugantrieb nicht etwa die Turbine verkauft wird, sondern Flugzeit oder Leistungsstunden. Ist das ein realistisches Modell?
Das ist seit mehreren Jahren Realität. Rolls Royce macht das so. Wer weiß denn über eine Turbine besser Bescheid als der Turbinenbauer, der das seit Jahren erfolgreich macht – mit einer hohen Zuverlässigkeit und bei gleichzeitiger Erhöhung der Leistung und Verminderung des Energieverbrauchs? Das ist Hightech und eine tolle Leistung. Aber nicht immer ist klar, welche Daten wichtig sind. Wir brauchen daher mehr Experten für die Big-Data-Analyse, um die Mehrwerte, die an diesen Stellen verborgen sind, zu heben. Hier scheuen sich manch klassisch denkende Unternehmen noch. Aber darin liegt die Zukunft.
Also heißt es jetzt Insourcing statt Outsourcing?
Wenn sich die Prozesse unter Industrie 4.0 neu ordnen, dann kann es an vielen Stellen Sinn machen, wieder Incourcing zu betreiben, weil damit ja ein zusätzlicher Mehrwert verbunden sein wird.
Herr Professor Schenk, wohin geht die Reise? Wie sehen Sie die Zukunft?
Ich glaube, wir sind auf all die technischen Herausforderungen noch nicht gut genug vorbereitet. Ich sehe vor allem einen großen Bedarf im Bereich der Ausbildung, Für das, was wir in der -realen Welt vorhaben, gibt es keine adäquaten Berufsbilder und auch keine adäquaten Ausbildungskonzepte. Das macht mir Sorgen. Nach wie vor ist es so, dass ein Ingenieur es schwer hat, sich semantisch mit einem ITler zu unterhalten. Wir müssen also dringend interdisziplinäre Ausbildungsformen finden.
Aber ich glaube, Sie sagen jetzt nicht nur so ›da muss uns was einfallen‹, sondern Sie haben bereits feste Vorstellungen?
Ich bin stolz darauf, dass wir gemeinsam mit der Universität Magdeburg ein Forschungszentrum und einen Studiengang »Digitales Engineering Management and Operations« eingerichtet haben. Meine Vision wäre, dass man bereits realisierte Industrie-4.0-Lösungen modellhaft so aufbereitet, dass man sie erstens als Demonstratoren zum Nachahmen für die Industrie und zweitens für die berufliche und akademische Ausbildung zur Verfügung stellen kann. Außerdem müssen wir vor allem kleinere und mittlere Unternehmen, die ja in der Regel weniger F&E-Potenzial haben, unterstützen. Sonst sehe ich die Zukunftsprognosen für diese eher dramatisch: Diejenigen, die Industrie 4.0 umsetzen, werden weiterhin erfolgreich am Markt sein. Und die anderen bleiben hintenan. Die Schere, die sich dann auftut, kann den Wirtschaftsstandort Europa gefährden. Stattdessen müssen wir die Produktionsstandorte Deutschland und Europa als Standorte der Wertschöpfung erhalten. Wir reden immer über Geldtransfer, wir müssen vielmehr über Wissenstransfer reden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Volker Vorburg