Mythos oder Realität: Werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher?

In der öffentlichen Debatte herrscht die Einschätzung vor, dass die Ungleichheit der Einkommen und des Vermögens in Deutschland und in Europa in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Geht die Schere zwischen Arm und Reich wirklich weiter auseinander, oder ist die wachsende Ungleichheit ein Mythos?

Nach Ansicht von Andreas Peichl und Martin Ungerer, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim, werden die Armen zwar nicht unbedingt ärmer, allerdings werden die Reichen sehr wohl reicher. Des Weiteren habe es in der Vergangenheit negative Entwicklungen bezüglich persistenter Armut und Einkommensungleichheit gegeben, die der aktuelle Beschäftigungsboom nicht ausgleichen konnte.

Allerdings könne eine Aufnahme von Beschäftigung bei entsprechenden Aufstiegsmöglichkeiten auch unterhalb der Armutsrisikoquote sinnvoll sein. Damit dieses Prinzip funktioniere, müssten aber die staatlichen Anreize zur Aufnahme von Beschäftigung speziell für Geringverdiener verbessert werden.

Nach Angaben von Richard Hauser, Goethe-Universität Frankfurt, sind gegenwärtig zwischen 15,5 % und 16,5 % der Bevölkerung vom Einkommensarmutsrisiko betroffen. Eine Zunahme der Ungleichheit zeige sich in vielen hochentwickelten Ländern und auch im Durchschnitt der EU-Länder, wobei die deutsche Armutsrisikoquote noch etwas unter dem EU-Durchschnitt liege.

Für Stefan Sell, Hochschule Koblenz, ist die Fokussierung auf die 10 bis 15 % einkommensarmer Menschen nach der offiziellen Abgrenzung eine kontraproduktive Verengung im Sinne der eigentlich zu führenden Diskussion. Man sei vielmehr mit einer Polarisierung nach dem »60-40«-Muster konfrontiert: 60 % der Menschen gehe es besser, sie erfahren Einkommenszuwächse und profitieren auch von der arbeitsmarktbedingt besseren Lohnentwicklung, aber 40 % würden abgehängt und hätten heute weniger zur Verfügung als noch vor zehn oder 20 Jahren, obgleich viele von ihnen voll in den Arbeitsmarkt integriert seien.

Judith Niehues und Christoph Schröder, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, unterstreichen dagegen, dass zwar die gesellschaftliche Ungleichheit höher sei als noch in den 1990er Jahren, im letzten Jahrzehnt haben sich die Einkommen aber nicht weiter auseinanderentwickelt. Dies spreche gegen die weit verbreitete Vermutung, die Agenda 2010 und insbesondere die Einführung von Hartz IV seien ursächlich für den Ungleichheitsanstieg. Überdies zeigen Armutsmaßen, die die Lebensverhältnisse in ihrer Vielfalt abbilden und nicht nur einkommensbasiert seien, in den letzten Jahren rückläufige Tendenzen. Es sei durchaus sinnvoll, nicht nur auf die relative Einkommensarmut zu schauen, sondern neben dem Einkommen auch die Dimensionen Erwerbstätigkeit, materielle Deprivation, Bildung, Umwelt und Gesundheit zu erfassen.

Dorothee Spannagel und Anita Tiefensee, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), bemerken, dass die Einkommensungleichheit trotz wirtschaftlichen Aufschwungs gestiegen sei. Insgesamt seien die Unternehmens- und Vermögenseinkommen seit Beginn der 1990er Jahre stärker gewachsen als die Arbeitnehmerentgelte. Und auch die Ungleichverteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen habe, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit Beginn der 1990er Jahre stark zugenommen.

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag, betont, dass »Armut« nicht gleichgesetzt werden darf mit der »Armutsgefährdungsquote«. Letztere sei lediglich ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut. Um sich tatsächlich ein Bild über die Einkommens- und Vermögensverteilung und Chancengerechtigkeit in Deutschland machen zu können, müsse man mehrere Indikatoren betrachten. Auch sei eine Stärkung der Kommunen und ihrer Infrastruktur ein wichtiger Beitrag zur Armutsbekämpfung.

Für Gerhard Bosch und Thorsten Kalina, Universität Duisburg-Essen, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Die Ungleichheit nehme weiter zu, und ihr Niveau sei nicht akzeptabel. Auch die Erosion der Mittelschicht gehe weiter: Zwar habe die Ungleichheit der Markteinkommen vor den Hartz-Gesetzen stärker zugenommen als danach. Trotz einer Halbierung der Arbeitslosigkeit und einem starken Beschäftigungswachstum habe die Mittelschichten aber auch nach 2004 an Boden verloren.

Textquelle: ifo institut https://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/infoservice/News/2017/05/news-20170524-sd-10-2017.html

 

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