Was geschieht, wenn das Stammhirn dem Großhirn dazwischenfunkt? Wir neigen dazu, alles quantifizieren zu wollen, doch bei den wichtigen Dingen, ist genau das nicht möglich. Gut so.
Unser uraltes instinktives Selbsterhaltungsprogramm sorgt naturgegebener maßen dafür, dass wir mit Aggression und Kampf auf unsere vermeintlichen Feinde reagieren. Wenn Sie jetzt denken, dass wir doch längst die Voraussetzungen eines zivilisierten und humanen Wesens mitbringen, haben Sie natürlich Recht. Dennoch überlagert, besonders in Stresssituationen, unser Stammhirn jene Gesinnung, aus der unsere Handlungen entstehen. Der älteste Teil unseres Gehirns – der Hirnstamm (Stammhirn) – hat sich im Laufe der Evolution schon vor ca. 500 Millionen Jahren entwickelt. Sie kennen den Ausdruck Stammhirn möglicherweise auch als »Reptilien- oder Krokodilhirn«. Diese Bezeichnung resultiert daher, das bei niederen Wirbeltieren wie eben Reptilien, das Stammhirn fast das gesamte Areal umfasst.
Im Laufe der Evolution entwickelten sich in unserem menschlichen System neue Gehirnareale, die die Regie, anstelle des Stammhirns hätten übernehmen sollen. Und schon landen wir mit ziemlicher Sicherheit in einer Sackgasse. Der moderne Mensch versucht die Zukunft aus der Vergangenheit herzuleiten, so manche Top-Manager übertreiben das bisweilen, da sich das Stammhirn nicht so recht zurückhalten will. Es mischt sich unentwegt in vielen Situationen ein.
Homo sapiens versus Reptil. Das Stammhirn bedient sich munter unserer Programme; es repräsentiert genetisch vorbestimmte Verhaltensweisen, die der Arterhaltung und dem Überleben jedes Einzelnen dienen. Man kann es vergleichen mit einer Art Kontrollzentrum für unbewusste, gefühllose und roboterähnliche Programme, die eher einem Reptilienverhalten ähneln. KI, ChatGPT und ihre Mitstreiter erweisen sich so eloquent, dass sich viele bereits fragen, ob der BOT bald Arbeitsplätze ersetzt. Dabei sind sie gar nicht so klug, bedienen sie doch in ihren Kontrollmechanismen und Abspulen ihrer Programmierungen das gute alte Stammhirn.
In bestimmten Situationen übernimmt dieses die Kontrolle über uns, in deren Folge alle anderen Bereiche out of Control – gelähmt sind, quasi heruntergefahren werden. Unsere mentale Einstellung und unser Verhalten geraten immer dann unter den Einfluss unserer uralten Instinktareale im Gehirn, wenn unser den Gefühlen zugeordnetes limbisches System, welches sich im Zwischenhirn befindet, und unsere evolutionäre noch junge, mit bewussten Denkvorgängen verbundene Großhirnrinde, in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden. Man probiert es mal mit Optimismus, schließlich bestimmen Bildschirme den Takt unserer Arbeit. Termine wollen eingehalten, Zahlen erreicht werden. Nur die Nörgelmentalität des Homo sapiens funkt schon wieder dazwischen, mit den besten Grüßen vom Stammhirn.
Wie entsteht nun der Konflikt? Unser Stammhirn ist nun mal keine KI und kann kein Update durchführen. In der heutigen Zeit sind viele Dinge, die wir als Bedrohung empfinden, etwa Existenzsorgen, politische Entwicklungen, Fachkräftemangel, Einbruch der Wirtschaft, Klimawandel, et cetera, für unser Stammhirn nicht mehr greifbar. Unser archaischer Hirnstamm hat für solche Situationen keine sinnvollen Lösungsansätze. Die Wirtschaft geht auf Autopilot, Politik spielt Ringelreigen, der Wähler schüttelt den Kopf, andere lassen die Fäuste sprechen. Es gibt keinen sichtbaren Feind, der bekämpft werden könnte; vor dem wir folglich auch nicht davonlaufen können. Unser ältester Gehirnstamm ist nicht in der Lage zu erkennen, dass die Bedrohungen unserer Zeit, überwiegend auf der mentalen Ebene stattfinden.
Die Sache mit der Erblast – das Vermächtnis. An dieser Stelle falle ich gleich einmal mit der sprichwörtlichen Tür ins Haus: Die Anwesenheit des Dominanzgehabes unseres Stammhirns, können wir wunderbar an verschiedenen Signalen erkennen; beispielhaft seien hier einige genannt, wie Egoismus, Argwohn, Selbstsucht, Gefühllosigkeit, Starrheit, Intoleranz, Aggressivität, Gewaltbereitschaft, fehlende Fürsorglichkeit, kurzfristiges Nutzdenken, Oberflächlichkeit, Opportunismus, Eitelkeit, Suchtverhalten, psychopathisches Auftreten, Eifersucht. Auch ritualisierte Verhaltensmuster, Cyber- und Informationskriege fallen unter die Regie des alten Gehirnteiles.
Führungskräften wird gerne nachgesagt, sich unter Kontrolle ihres Stammhirns zu befinden, sie lieben übertriebene Vorschriften und geben sich nur mit geordneten Verhältnissen zufrieden. Sie neigen zur Wissbegierigkeit, Kontrolle und übernehmen gerne das Kommando. Befehle wollen erteilt, Autoritäten schnell erkannt werden. Schließlich darf kein Alphatierchen neben einem sitzen. Was zählt sind Status- oder Rangsymbole, die Vermögen repräsentieren sollen. Da Stammhirn-Typen ausschließlich mit der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse beschäftigt sind, sind diese für das turbulente Geschehen der heutigen Zeit sehr empfänglich.
Dieser Hirntyp denkt in der Regel wenig zukunftsorientiert. Dadurch ist er einfach zu steuern, da alles außerhalb seines eigenen »Universums«, Nebensache für ihn ist. Auf furchteinflößende Situationen reagiert dieser Typ unmittelbar. Ein Angriffspunkt für Autokraten und Lobbyisten. Die Eigenschaften unseres Stammhirns machen uns anfällig für die Einflüsse von Machthabern. Unser Gehirn greift beispielsweise bei der medialen »Dauerdarstellung« von Wirtschaftskrisen, Mangel-Illusionen oder Kriegen auf das Stammhirn zurück und wird dadurch unbewusst in eine Dauerangst hineinversetzt. Je mehr unser Stammhirn uns unter Kontrolle hat, desto anfälliger für Negativreize sind wir, desto mehr taumeln wir umher im Bemühen um einen Ausweg.
Unser Stammhirn ist ein schlechter Schüler, es tut sich sehr schwer mit neuen, ihm unbekannten Situationen, fertig zu werden. Das lässt sich gut in unserem gegenwärtigen Alltag beobachten, wenn dramatische Meldungen in den Medien ihren Lauf nehmen und alternative Fakten und Emotionen die Realität verdrängen. Denn das Stammhirn ist nicht in der Lage, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden.
Die Lösung: Hightech im Hirn. Im Laufe der Evolution hat sich ein Gehirnteil entwickelt, das beispielsweise für den Mut Neues auszuprobieren, für die Risikobereitschaft und Experimentierfreudigkeit, für die Fähigkeit Abzuwägen und für Lösungen anstelle von Schwarzmalerei, zuständig ist. Der präfrontale Cortex – ein »modernes« Stirnhirn. Hightech im Hirn, lebendige KI par excellence. Wissen und Lernfähigkeit pur. Nun werden wir beinahe dazu gezwungen, uns mit Statussymbolen zu schmücken. Wir präsentieren im hochkomplexen modernen Zeitalter mit ihnen unsere persönliche, ich möchte sagen »momentane Wichtigkeit« unseres eigenen Egos, welches wir gerne mit einem tollen Job, Karriere oder Berühmtheit befriedigt wissen möchten. Ein ganz typischer Ausdruck unseres Stammhirns, das sich immer dann äußert, wenn, ja, wenn wir uns in unseren Ansprüchen bedroht fühlen.
Das Spiel unserer Programme bedient unsere Automatismen. Wir geraten schneller in eine aggressivere Grundhaltung. Wir reagieren auf negative Einflüsse, Abwanderung von Wirtschaft, Jobverlusten, Mitarbeitersuche oder andere bewegende Sachverhalte sehr emotional, mit einer Mischung aus Wut, Aggression und einer gewissen Planlosigkeit. Wenn wir die Verursacher dieses Befindens dann nicht erkennen, verstärkt sich dieser Zustand in konzentrierter Form in uns. Genau an dieser Stelle, setzt unser »Autopilot« ein. Der ChatGPT in uns. Denn diese reflektorischen Prozesse gehören unserem uralten und veralteten Grundmechanismus des Stammhirns an. Zu jener Zeit war dieses Überlebensprogramm zur Arterhaltungnotwenig. Wir nutzen die bahnbrechende Erneuerung beziehungsweise Erweiterung unseres Gehirns, den Neocortex – die Großhirnrinde, zu wenig. Dabei bietet es uns die physische Voraussetzung, um allen manipulativen Machtgehabe, auch der Selbstmanipulation erfolgreich zu begegnen.
Wenn wir lernen, von dieser Großhirnfunktion zeitnah Gebrauch zu machen, werden sich unsere Reaktionen auf negative Einflüsse neutralisieren. Wir würden nachhaltige, tragfähige Lösungen finden, Wirtschaft zu stabilisieren, Industrie und Produktion auf- und auszubauen, Personal zu beschaffen, Kriege niederzulegen, dem Klimawandel zu begegnen, Kapital gerechter zu verteilen. Schaffen wir es, diese alternative Option bewusst in Anspruch zu nehmen, ändert sich unsere Wahrnehmung und der Blickwinkel auf verschiedene wirtschaftliche, politische und soziale Situationen. Was nicht bedeutet, dass uns negative Erlebnisse kalt lassen; vielmehr lassen wir nicht mehr zu, dass wir in einer emotionalen »Säugetierhaltung« verharren und die Kontrolle über unser reflektiertes Handeln an unser Stammhirn abgeben.
Was fangen wir jetzt an mit der Erkenntnis. Was deprimierend klingt, birgt auch große Chancen, wenn wir verstehen, dass unser Gehirn nicht mehrere Krisen zeitgleich bewältigen kann. Hierzu bedarf es der Gemeinschaft.
Diese Welt befindet sich im Umbruch, sie fordert uns, bisweilen überfordert sie uns und erhitzt unsere Gemüter. Überlassen wir an diesen zukunftsweisenden Stellen, unserem Stammhirn die Regie, würde jede weitere Entwicklung auf der Welt verhindert werden. Mehr noch brächte es neues Leid in Form von Kriegen, politischen Anfeindungen, Rückbau von Demokratie, wirtschaftlichen Umbrüchen, Insolvenzen und noch mehr Krisen auf unserem wunderbaren Planeten. Das althergebrachte Spiel von »Schuld und Sühne« würde weiter gehen.
Die Realität auf dieser Welt hat uns alle eingeholt. Umso wichtiger sind Besonnenheit, ein aufrichtiges, vernünftiges, ich möchte bald formulieren behutsames Miteinander, das von gegenseitigem Respekt und Verständnis geprägt ist. Der Autopilot ist hier fehl am Platz.
Diese Welt braucht Inhalt, Präzision, Stil, Takt, Pietät, die Bereitschaft zur Kurskorrektur und eine verantwortungsvolle Führungskultur. Der präfrontale Cortex wartet auf seinen Einsatz.
Gabi Claudia Stratmann,
Business-Philosophin,
Gesellschaftstheoretikerin,
Autorin