Fachkräftemangel trifft KMU schwer – nicht nur in Deutschland

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  • Jedes zweite deutsche Unternehmen schätzt die negativen Auswirkungen des Personalmangels auf den Geschäftserfolg als hoch ein.
  • Fachkräftemangel ist ein europäisches Problem.
  • Personaler und Führungsebene schätzen die Auswirkungen des Fachkräftemangels bemerkenswert unterschiedlich ein.
  • Jedes vierte Unternehmen in Ostdeutschland denkt über Abwanderung nach.
  • Nur jedes vierte deutsche Unternehmen profitiert vom Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG).

 

Die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag des B2B-Plattformbetreibers Visable unter deutschen Unternehmen verdeutlichen die dramatischen Auswirkungen des Fachkräftemangels. So gibt rund die Hälfte der Befragten (49 Prozent) an, dass das Fehlen von geeignetem Personal bereits »eher starke« oder sogar »sehr starke negative Auswirkungen« auf den Geschäftserfolg habe. Nur 19 Prozent der Unternehmen verzeichnen keine negativen Auswirkungen. Besorgniserregend ist auch die Prognose: Jeder zweite Befragte geht davon aus, dass sich die Lage in den kommenden fünf Jahren noch weiter verschärfen wird (49 Prozent).

Ebenfalls befragt wurden Entscheider in den weiteren Kernmärkten von Visable. Die überraschende Erkenntnis: Entgegen der Wahrnehmung hierzulande ist Fachkräftemangel kein spezifisch deutsches Problem. Die negativen Auswirkungen sind in Frankreich, Österreich und der Schweiz genauso gravierend. Im Durchschnitt aller Länder schätzt jeder zweite Befragte (51 Prozent) die Auswirkungen als »eher stark« oder sogar »sehr stark« ein, in Österreich geben sogar fast 6 von 10 Befragten diese Einschätzung ab (58 Prozent). Über alle Länder hinweg sehen die Entscheider die Zukunft düster: Jeder Zweite (48 Prozent) geht von einer Verschlechterung der Situation aus, gerade einmal 6 Prozent haben Hoffnung auf eine Verbesserung. Ist Deutschland also vielleicht gar nicht »der kranke Mann Europas«, sondern Europa schon insgesamt am Kränkeln, ohne dass das auf politischer Ebene bisher genug wahrgenommen wird?

 

Chefetage unterschätzt das Problem

Die beiden stärksten Auswirkungen des Fachkräftemangels sind laut der deutschen Befragten eine deutliche Mehrbelastung der Belegschaft (39 Prozent) und Personalausfälle (34 Prozent). Erstaunlich dabei: Mehr als die Hälfte der Personalverantwortlichen benennt die Mehrbelastung (51 Prozent), im Senior Management dagegen nur etwa ein Viertel (27 Prozent). Die gleiche Tendenz lässt sich auch bei den Personalausfällen feststellen (44 Prozent zu 24 Prozent).

Insgesamt beurteilen die Personaler sechs von elf konkreten Auswirkungen des Fachkräftemangels auf die Geschäftstätigkeit als signifikant gravierender als die Führungsebene. Diese Diskrepanz kann darauf hindeuten, dass das gesamte Ausmaß der Situation noch nicht vollständig in der Chefetage angekommen ist. Im Senior Management sind die Einschätzungen außerdem stärker polarisiert als bei Befragten aus dem HR-Bereich: 24 Prozent der Chefetage sehen »sehr starke« Auswirkungen, bei HR sind es 16 Prozent. Am anderen Ende der Skala das gleiche Bild: 22 Prozent aus dem Senior Management stellen keine negativen Auswirkungen fest; eine Einschätzung, die nur 16 Prozent der Beschäftigten aus dem HR-Bereich teilen.

 

Abwanderungswelle wegen Fachkräftemangel?

Wie dramatisch die Situation empfunden wird, zeigen auch folgende Zahlen: Bereits 16 Prozent der Befragten erwägen, mit ihrem Unternehmen zumindest teilweise ins Ausland abzuwandern. Ein deutlicher Unterschied besteht hier zwischen West- und Ostdeutschland. Während in Westdeutschland rund 13 Prozent über eine Abwanderung bzw. Verlagerung einzelner Arbeitsbereiche ins Ausland nachdenken, ist es in den neuen Bundesländern sogar jedes vierte Unternehmen. Würden diese Pläne überall in die Tat umgesetzt, beträfe das in Deutschland hochgerechnet viele tausend Unternehmen.

Eine Abwanderungswelle droht also. Und das obwohl viele Unternehmen in Anbetracht der kritischen Situation bereits eine breite Palette an Maßnahmen nutzen, um die negativen Auswirkungen des Fachkräftemangels abzufedern. Dabei werden sie zum großen Teil selbst aktiv bei der Suche nach geeigneten Fachkräften. Rund 33 Prozent der Befragten nennen den Ausbau des Recruitings, 26 Prozent setzen auf interne Kompetenz- und Wissenstransferprogramme. Ein weiterer Hoffnungsträger ist die Digitalisierung: Mehr als jedes vierte Unternehmen geht die Herausforderungen durch den Fachkräftemangel mit Digitalisierung und Automatisierung an (28 Prozent), auf einen verstärkten Einsatz von KI setzen 17 Prozent. Mit besseren Vertragskonditionen will jeweils jedes fünfte Unternehmen Fachkräfte anlocken, darunter geben 22 Prozent Zahlungen überdurchschnittlicher Branchengehälter und 20 Prozent das Angebot flexibler Beschäftigungsmodelle an. Der deutsche Mittelstand reagiert also aktiv und kreativ auf die Herausforderungen des Personal- und Fachkräftemangels.

Peter F. Schmid, CEO von Visable, ordnet die Ergebnisse ein: »Unsere Zahlen offenbaren ein bedenkliches Bild – deutsche Unternehmen sind mit voller Wucht vom Fachkräftemangel getroffen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz reicht nicht aus, um die Herausforderung zu meistern. Das Rückgrat unserer Wirtschaft ist bedroht, der Handlungsdruck ist hoch.«

 

Forderungen an die Politik

Deutsche KMU sehen sich im anhaltenden Fachkräftemangel zusätzlich mit hohem Verwaltungsaufwand und administrativen Hürden konfrontiert: Mehr als jedes vierte Unternehmen fordert dringend einen Bürokratieabbau von der Politik (28 Prozent). Der in Politik und Medien diskutierte und von Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, befürwortete Ansatz, die Frauenerwerbstätigkeit zu erhöhen, stößt bei den Unternehmen auf wenig Zuspruch. Nur 14 Prozent der Befragten fordern entsprechende Maßnahmen, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen und damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Eine seltene Einigkeit überrascht hier: Weder beim Geschlecht noch beim Alter der Befragten oder zwischen Ost und West zeigen sich in der Frage zur Förderung von Frauen signifikante Unterschiede. Ein ebenfalls geringer Anteil der Befragten plädiert für traditionell wirtschaftsliberale Maßnahmen wie flexible Kündigungs- und Wiedereinstellungsregelungen (14 Prozent) und eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters (10 Prozent). Die kontroverse Forderung nach einer Förderung der Geburtenrate in Deutschland wird von über 90 Prozent der Unternehmensentscheider als untauglich erachtet, um den Fachkräftemangel zu mildern.

Peter F. Schmid sieht die politischen Entscheider in der Pflicht: »Die Unternehmen fühlen sich in schwierigen Zeiten allein gelassen. Die Politik muss jetzt endlich umfassende Konzepte zur Bewältigung des Fachkräftemangels entwickeln und schnell in die Tat umsetzen. Nur so können wir die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten.«

 

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz löst die Probleme nicht

Mehr als jeder vierte Umfrageteilnehmer (27 Prozent) hat angegeben, dass sein Unternehmen von dem seit März 2020 geltenden Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) profitiert. Bemerkenswert weit auseinander liegen auch hier wieder Personaler und die Chefetage in ihrer Einschätzung: Gemäß den Geschäftsleitungen profitierte ein Drittel der Unternehmen von der geltenden Regelung. Eine Erfolgsmeldung? Nur vermeintlich, denn lediglich 19 Prozent aus dem Personalbereich sehen das auch so und ziehen sogar ein noch trüberes Fazit: 45 Prozent gaben an, ihr Unternehmen hätte überhaupt nicht davon profitiert.

Die Befragten sehen weiterhin erheblichen Handlungsbedarf bei den gesetzlichen Regelungen zur Einwanderung von Fachkräften. Fast sechs von zehn Befragten (57 %) glauben auch nicht, dass die jüngst von der Ampel beschlossene Reform des Gesetzes zu entscheidenden Verbesserungen führen wird. Ein zentraler Kritikpunkt ist der hohe Verwaltungsaufwand, der Deutschland für ausländische Fachkräfte wenig attraktiv macht. Mehr als jeder dritte Entscheider (36 Prozent) sieht die Attraktivität Deutschlands durch bürokratische Hürden bedroht, während 24 Prozent rechtliche Hürden bei der Einwanderung als problematisch erachten.

Hohe Kosten gelten ebenfalls als abschreckender Faktor: Hohe Steuerlast (26 Prozent) und hohe Lebenshaltungskosten (23 Prozent) sind nach Meinung der Entscheider Hürden, die es zu überwinden gilt, um Fachkräfte anzuziehen. Ein beschränkender Faktor ist auch die Sprachbarriere. Mehr als jeder vierte Befragte (27 Prozent) sieht sie als Hindernis für die Zuwanderung von Fachkräften, obwohl in der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes bereits zum Teil Lockerungen bei den Sprachanforderungen vorgesehen sind.

 

[1] Die Umfrage wurde im Zeitraum vom 19. bis 25. September 2023 vom Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag des B2B-Plattformbetreibers Visable durchgeführt. In Deutschland wurden 600 Personalentscheider und Mitglieder des Senior Managements deutscher Unternehmen befragt, darunter überwiegend KMU (435 Befragte). In Frankreich 526 (402 KMU), in Österreich 226 (173 KMU) und in der Schweiz 135 (109 KMU).