Interview Matthias Berlit und Ludger Schuh – Vom Elfenbeinturm bis zur Werkshalle

Matthias Berlit und Ludger Schuh,

Software, die mitdenkt, trifft im Gegensatz zu administrativen Programmen eigenständig intelligente Planungs- und Dispositionsentscheidungen. Das Softwarehaus INFORM Institut für Operations Research und Management GmbH in Aachen entwickelt Lösungen mit Entscheidungsintelligenz, die mit mathematischen Optimierungsalgorithmen und Fuzzy Logic Geschäftsprozesse aus den verschiedensten Branchen optimieren. Matthias Berlit, Leiter des Geschäftsbereichs Industrielogistik und Healthcare Management, sowie Ludger Schuh, Leiter des Geschäftsbereichs Inventory und Supply Chain, stellen das Unternehmen vor.

Software, die mitdenkt, Herr Schuh, das hört sich eher wissenschaftlich-akademisch an. Liegen dort ihre Wurzeln?

Ludger Schuh: In der Tat. 1969 gründete Professor Hans-Jürgen Zimmermann das Institut für Operations Research mit dem Ziel, wissenschaftliche Theorien und Hintergründe auch in die Praxis umzusetzen. Seit Mitte der 80er Jahre haben wir ein stetes dynamisches Wachstum von etwa 22 Prozent im Jahr, der Anteil der Auslandsprojekte liegt inzwischen bei über 50 Prozent. Wir beschäftigen heute über 550 Mitarbeiter aus 30 Nationen.

Worin bestanden denn die ersten Aufgabenstellungen, mit denen alles angefangen hat? Gab es typische Probleme oder Lösungen?

Ludger Schuh: Es drehte sich um Themen verschiedenster Art, bei denen Optimierungspotenziale gesehen wurden. Das ging bis zur Optimierung von Mischungsverhältnissen in Sektkellereien. Konzentriert haben wir uns aber auf bestimmte standardisierbare Problemstellungen, die schließlich auch Auslöser für unser Wachstum wurden. Dazu gehörten die innerbetriebliche Transportoptimierung und die Stichprobeninventur, das waren unsere beiden ersten Standardsysteme, aus denen sich alles entwickelt hat.

Matthias Berlit: Nach und nach sind wir zur Weiterentwicklung der Standards übergegangen und haben auch Support und Maintenance angeboten. Daraus sind heute sechs Geschäftsbereiche für die verschiedensten Branchen geworden. Herr Schuh vertritt den Bereich Inventory und Supply Chain, ich bin für die Industrielogistik und das Healthcare Management zuständig, dann fehlen noch die Kollegen für den Bereich Logistik allgemein. Die Kollegen vom Aviation-Bereich beschäftigen sich weltweit mit Airport-Resource-Management-Systemen und sind zurzeit an über 150 Flughäfen präsent. Der Bereich Produktion beschäftigt sich vor allem mit Produktionsplanungssystemen und bei Risk and Fraud dreht sich alles um Risikobekämpfung und Betrugserkennung im Versicherungs- und Bankengeschäft.

Ludger Schuh: Operation Research ist ja letztlich die Wissenschaft, auf der Basis von Daten intelligente Entscheidungen zu fällen. Dafür ist gerade Risk and Fraud ein schönes Beispiel. Da wird etwa entschieden, ob eine Transaktion mit einer Kreditkarte durchgeht. Man hat nicht einen Tag Zeit, um sich das zu überlegen, sondern in 0,25 Sekunden prüft so ein System, ob es sich um einen Betrugsfall handeln könnte.

Ludger  Schuh,  Leiter des Geschäftsbereichs Inventory  und Supply Chain bei Inform.

Ludger Schuh, Leiter des Geschäftsbereichs Inventory und Supply Chain bei Inform.

Die Basis für die Anwendungen sind immer Algorithmen aus Operations Research?

Ludger Schuh: Ja. Das ist anwendungsorientierte Mathematik. Wir haben eine Sammlung von Algorithmen und anwendungsorientierten mathematischen Lösungen entwickelt, die wir in unsere Software einbauen. Sie sind der Motor in unseren Programmen. Diese Mathematik ist hochkomplex, soll aber natürlich nicht von Mathematikern, sondern von Planern eingesetzt werden. Darum haben wir um das Ganze eine Art Chassis gebaut, einen Programmstandard, der die Algorithmen anwendbar macht.

Matthias Berlit: Der Anwender sieht Software-Oberfläche, aber im Hintergrund spricht diese Oberfläche die Algorithmen an. Das Chassis besteht aus drei Bausteinen: Dem Algorithmen-Motor, der Oberfläche für die User und natürlich der Schnittstellentechnik, mit der wir uns beispielsweise an die ERP-Systeme, die Warenwirtschaft oder was immer gerade gebraucht wird, andocken können.

Eine wichtige Rolle für Unternehmen mit logistischen Prozessen spielt bei Ihnen ein ganzheitlicher, integrierter Planungsansatz. Was verstehen Sie darunter?

Ludger Schuh: Da muss man zwei Ebenen unterscheiden: Die horizontale und die vertikale integrierte Planung. Ein Punkt der vertikalen Planung ist Sales and Operation Planning. Es werden auf oberster Ebene Entscheidungen in Abstimmung mit den Zielen der verschiedenen Finanzbereiche gefällt, die dann über Simulationen bis in die reale Datenwelt abgesichert werden. Man konnte zwar immer oben eine Entscheidung treffen, aber zu checken, welche Folgen das tatsächlich in der Realplanung hat, war bisher nicht möglich. Darum kümmert sich heute Sales and Operation Planning. Aber wichtiger ist eigentlich der Bereich der horizontalen Planung, wo die Entscheidungssysteme der einzelnen Komponenten der Supply Chain – also Beschaffung, Distribution und Absatzplanung – ineinander greifen.

Das müssen Sie bitte verdeutlichen.

Ludger Schuh: Da gibt es die simultane Produktionsprogrammplanung. Bisher hat man geschaut, wie optimiere ich eine Losgrößenentscheidung. Gleichzeitig hat die Produktionsplanung versucht, eine gleichmäßige Auslastung zu erreichen. Das sind verschiedene Zielsetzungen. Heute macht man mit der simultanen Produktionsprogrammplanung beides gleichzeitig. Das heißt, die Losgrößenoptimierung berücksichtigt schon die Auslastung auf den Maschinen. Die Größen beeinflussen sich gegenseitig.

Matthias Berlit: Im Bereich Automotive Logistics müssen fertige Autos zum Kunden gebracht werden. Also ein Golf Variant wird irgendwo in Mexiko produziert, und den holen Sie dann in Stuttgart beim Händler ab. Das ist ein horizontaler Prozess vom Werk bis hin zum Händler. Hier bieten wir ein integriertes System an, in dem der Hersteller wirklich vom Werk bis zum Händler alles verfolgen und optimieren kann. Auf der vertikalen Ebene ist es eher die strategische Planung, wo baue ich welches Modell, welche Häfen benutze ich für den Import und Export, welche Auswirkungen hat das auf die Logistikkosten? Also wird das Ganze horizontal/vertikal abgebildet als operative Logistik und als Performance Measurement und in Big-Data-Analysen überprüft. Die Ergebnisse kann ich in meine Strategie einfließen lassen, ein Feedback Loop aufbauen und einen sich selbst optimierenden Prozess installieren.

Verstehe ich das jetzt richtig, dass die Inform-Software über der ERP- oder Logistik-Software sitzt und sie quasi steuert oder beeinflusst?

Ludger Schuh: Im Prinzip ist das richtig. Die ERP- und PPS-Systeme, das sind unsere Datenquellen. Deren Daten verarbeiten wir, liefern sie zurück und wo bisher von einem ERP-Standard Basisentscheidungen getroffen wurden, werden diese jetzt intelligent ersetzt oder modifiziert.

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Matthias Berlit, Leiter des Geschäfts­bereichs Indus­trielogistik und Healthcare Management bei Inform.

Gibt es eine bestimmte Firmengröße, ab der ein Einsatz ihrer Software sinnvoll ist?

Matthias Berlit: Das Cloud-Computing senkt die notwendige Unternehmensgröße deutlich ab. Früher musste man tatsächlich eine bestimmte Anzahl von Transaktionen haben, da konnten wir die klassischen KMUs eher schwer erreichen. Wir wollten aber auch kleinere Firmen profitieren lassen und haben die Lösungen funktional deutlich entschlackt. Klar, sie können weniger, sind dafür aber sehr intuitiv einsetzbar. Stellen Sie sich ein Industrieunternehmen vor, in dem es etwas zu transportieren gibt. Dort können Sie über eine unserer Apps ein Foto von dem Transportgut schicken und sagen, wo das Ganze hin muss. Das Foto landet bei uns in der Datenbank und der Fahrer von einem Transportmittel kriegt dann optimiert seinen Transportauftrag. Früher musste man sowas mit Erfahrung und vielen Suchfahrten machen.

Ihr Kunde braucht also gar keinen Rechner, sondern nur einen Internetzugang und ein Endgerät.

Matthias Berlit: Genau. Ob Smartphone, Tablet oder irgendein PC, das ist egal. Und die Bezahlung ist transaktionsabhängig. Habe ich einen Transport, zahle ich eine geringe Gebühr – in der einfachsten Version sieben Cent – und wenn ich das System morgen nicht nutze, entstehen auch keine Kosten. Es gibt keine Grundgebühr und keine Zeitverträge. Unser Pilotkunde hat 170, 180 Transportaufträge pro Tag. Früher wäre es nicht möglich gewesen, dem etwas Vernünftiges zu liefern. Das wäre viel zu teuer gewesen. Jetzt kann er seine Personalressourcen schon dadurch optimal nutzen, dass es keine Suchfahrten mehr gibt.

Ludger Schuh: Seit einiger Zeit läuft noch eine weitere Lösung in der Cloud: Die Stichprobeninventur. Das ist unsere kleinste Anwendung, die die Besonderheit hat, dass sie genau einmal im Jahr eingesetzt wird, meist an einem einzigen Tag. Da haben sich viele Kunden früher beschwert, dass sie etwas installieren und Know-how 365 Tage vorhalten müssen, um es an einem Tag abrufen zu können. Heute schalten sie sich einmal im Jahr auf und führen ihre Inventur durch.

Sind weitere Lösungen für die Cloud geplant?

Matthias Berlit: In den Startlöchern steht die Lösung für ein sogenanntes Zeitfenster-Management-System. Ein Unternehmen möchte zum Beispiel ein Zeitfenster für Anlieferung und Abholung vereinbaren. Heute gibt es im Internet dafür schon Kommunikationsplattformen. Wir gehen aber einen Schritt weiter und setzen diese Planung auch faktisch um. Sie können beispielsweise per GPS verfolgen, wo der Lkw gerade ist. Das funktioniert innerhalb eines Unternehmens ebenso, wie auf der Fahrt vom Lieferanten zum Empfänger. So können Sie abhängig von der Situation den Lkw dirigieren.

Was für aktuelle Herausforderungen gibt es für Inform? 

Ludger Schuh: Die Lebensmittel- und Pharmabranche ist für uns immer etwas Besonderes. Durch die Mindesthaltbarkeitsdaten und die Verpflichtung zur Nachverfolgbarkeit sind wir bei der Bestandsoptimierung und Absatzplanung immer wieder gefordert – also da, wo genau geschaut wird, welche Bestände wann benötigt werden und auch tatsächlich lieferbar sind. Die Grundplanung verläuft dabei zunächst aufgrund der Historie. Wir blicken zurück und planen nach vorn. Dann kommen aber Inputs aus verschiedenen Bereichen wie Werbekampagnen oder Produktionsengpässe. Die müssen Sie immer zu einem gültigen Plan zusammenbringen, also aussagefähig zu Produktion und Lieferbarkeit machen. Das wird international gerade stark nachgefragt und stellt eine besondere Stärke unseres Systems dar.

Wie funktioniert das?

Ludger Schuh: Nehmen Sie Meßmer-Tee. Dahinter steht die Ostfriesische Teegesellschaft, für die wir planen. Die stellen ihren Bedarf am Markt fest, fragen dann ihren Tee weltweit nach und kaufen entsprechend ein. Genau so macht es Frosta im klassischen Tiefkühlfischbereich und bei den Ernteprodukten: Den Bedarf im Einzelhandel analysieren und dann die entsprechende Ware ordern. Für Ernteprodukte läuft es ebenso. Bei beiden Kunden wird die Absatzplanung über eine Inform-Software optimiert.

Matthias Berlit: Eine ständige Herausforderung ist für uns die Prozessmodellierung. Dass sich Prozesse ändern, ist ja nichts Neues. Aber die Änderungsgeschwindigkeit nimmt zu. Darum integrieren wir Prozessmodellierungsdateien in unsere Software – Business Process Modelling –, um etwa Workflows und andere Prozesse schnell und einfach modellieren zu können. VW Mexico produziert etwa 700.000 Autos im Jahr und verschifft sie in die ganze Welt. Da gibt es dann mal Änderungen in der Qualitätssicherung, vielleicht muss bei allen New Beetles, die nach Nordamerika gehen, der Batteriestand noch einmal gemessen und protokolliert werden. Unser Kunde ICO schlägt in Antwerpen und Zeebrügge 1,8 Millionen Autos aller großen Hersteller um. Und jetzt kommt ein Opel Ampera, ein Elektro-Auto. Für den gibt es natürlich wieder neue Prozesse, etwa Steckdose statt Zapfsäule. Diese Änderungen lassen sich innerhalb kürzester Zeit im System durchführen, auch wenn ich sie weltweit in meinen Betrieben ausrollen will, damit überall die gleichen Prozesse installiert sind.

Vielleicht sollten wir zum Schluss noch einmal auf die vertikale Integration und das Sales and Operation Planning zurückkommen?

Ludger Schuh: In einem Unternehmen gibt es die verschiedensten Zielsetzungen. Die Entscheidungsträger – Produktionsleiter, Kaufmännische Leiter – sollen sich einigen und auf einer kollaborativen Plattform ihre Pläne anpassen, um das Gesamtunternehmensziel optimal zu erreichen. In der Vergangenheit haben sie sich geeinigt, ohne zu wissen, wie sich ihre Entscheidungen in der Unternehmensorganisation nach unten auswirken. Jetzt ist man aber in der Lage, tatsächlich die Supply Chain durchzuplanen, zu simulieren, um zu sehen, ob das überhaupt funktioniert. Gibt es genug Produktionsstätten, welche Folgen hat das im Deckungsbeitrag, erreiche ich überhaupt die Gewinnziele? Das ist mittlerweile bei der Unterstützung des Sales and Operation Planning über unsere integrativen Planungsansätze möglich.

Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch.


Das Gespräch führte Volker Vorburg
Bilder:  © Christian Günther