Jede agile Methode bedient eine komplexe Fragestellung: Ein gut sortierter Werkzeugkasten

Illustration: ArtTower

Der erste Schritt, den jedes Unternehmen in Richtung Agilität gehen muss, ist Agilität verstehen. Denn wer nicht agil denkt, wird auch nicht agil handeln können. Und das hat durchaus seine Berechtigung, denn ohne die Grundhaltung, ohne das Verständnis für die agile Philosophie, muss man erst gar nicht überlegen, ob und welche agile Methode sich für die eigene komplexe Problematik als Lösungsansatz eignet. Wer jedoch in der Lage ist, agil zu denken, dem eröffnen sich vollkommen neue Möglichkeiten der Problemlösung: die agilen Methoden.

 

Vergleicht man die Agilität mit einem Werkzeugkasten, stellen die verschiedenen agilen Methoden einzelne Werkzeuge dar. Als erstes wird das Problem analysiert und dann ein dazu passendes Werkzeug ausgewählt, denn jedes dieser Tools hat eine spezielle Aufgabe – wie in einem echten Werkzeugkasten: Wer etwa einen Hammer, statt eines Schraubendrehers benutzt, um eine Schraube in die Wand zu schlagen, hat zwar durchaus eine kaputte Schraube in der Wand, effektiv und sinnvoll ist diese Methode aber nicht.

Analog sieht es auch bei den agilen Methoden aus: Je nach Problemstellung wird das entsprechende Toolset gewählt, das dafür geschaffen wurde, exakt solche Herausforderungen zu lösen. Dabei bedient jede der agilen Methoden eine komplexe Fragestellung. Denn vor allem, um komplizierte und komplexe Probleme in den Griff zu bekommen wurden die agilen Methoden geschaffen.

 

Komplexe Probleme brauchen agile Lösungen

 

Scrum – Softwareentwicklung:

Zu den bekanntesten Methoden gehört Scrum, der Begriff stammt vom englischen Wort für Gedränge. Aus dem Bekanntheitsgrad resultiert aber eine weit verbreitete falsche Anwendung, denn viele agile Teams werden von ihren Vorgesetzten dazu genötigt, Scrum universal einzusetzen, um zu einer Lösung zu gelangen. Warum das nicht funktionieren kann, zeigt sich, wenn man sich die Fragestellung, sprich das zu lösende Problem anschaut. Scrum bedient die komplexe Fragestellung »Entwicklung einer Software« und ist insofern aus der Softwareentwicklung hervorgegangen. Dabei werden die Lösungen iterativ, sprich in wiederholenden Abläufen, ermittelt. Das Ziel kann dabei nicht immer schon im Voraus genau definiert werden, denn es wird sich erst im Rahmen der Entwicklung im Detail manifestieren. Das können klassische Softwaremethoden nicht leisten, daher wird Scrum für eigenentwickelte Software eingesetzt.

 

Modellbasiertes agiles Design – Einführung Standardsoftware:

Besonders interessant ist das Hybrid-Modell, welches die Ansätze Agil und Wasserfall, einem Klassiker im Projektmanagement, vereint. Hybride Modelle eignen sich für komplexe Problemstellungen bei Standardsoftware. Hierbei wird agil vorgegangen, solange das Resultat mittels vorgefertigter Lösungen und Bausteinen noch unklar ist. Sobald dieses jedoch definiert wurde, der Lösungsweg funktioniert und den Segen des Kunden hat, kann man aus der agilen Methode in die klassische Methode Wasserfall wechseln. Die restlichen Projektphasen werden klassisch in mehreren aufeinander aufbauenden Stufen wasserfallartig bearbeitet.

Der Grund für den Wechsel von Agil zu Klassisch: Mit der Klarheit über die funktionierende Lösung ist die Komplexität in der Fragestellung verschwunden. Sobald keine Komplexität mehr vorliegt, benötigt man keine agile Methode mehr, sondern kann besser zur klassischen Methode wechseln, um die Lösung zu erreichen.

Dieser Wechsel hat den Vorteil, dass wieder fixe Lösungen zu fixen Zeitintervallen möglich sind – wie vom Kunden oftmals gewünscht. Zudem kann man im klassischen Umfeld die Aufgaben nach Zeitplan abarbeiten und die Kalkulationen sind – zum jetzigen Zeitpunkt – gegenüber der Kalkulation bei agilen Methoden oftmals übersichtlicher und einfacher zu gestalten. Somit vereint das Hybrid-Modell die Vorzüge agiler und klassischer Methoden.

 

Design Thinking – Produkt- beziehungsweise Prozessentwicklung neu denken:

Dieses agile Modell setzt vorn im Produktzyklus an, wenn es noch gar kein Produkt gibt. Es wird ein Problem erkannt, wie etwa ein nicht realisierbarer Kundenwunsch oder auch ein nicht funktionierendes Geschäftsmodell. Um das komplexe Problem im Detail zu verstehen, nutzt man das agile Verfahren, um durch verschiedene einzelne Verfahren, die hintereinandergeschaltet sind, das zugrunde liegende Problem im Detail zu verstehen. Durch die Betrachtung der Idee, aus unterschiedlichen Perspektiven, kann zu einer Lösung gelangt werden. Aus dieser lässt sich schließlich ein (nicht lauffähiger) Prototyp fertigen. Der Prototypen wird getestet und durchläuft, bei auftretenden Problemen, die agile Methode erneut bis er ordnungsgemäß konzipiert ist und als Modell für eine echte Fertigung dienen kann.

Damit man aber das Problem überhaupt aus einem neuen Blickwinkel betrachten kann, ist es wichtig, die Betriebsblindheit auszuschalten. Dies gelingt, indem sich das Projektteam interdisziplinär aus Mitarbeitern verschiedener Bereiche und Abteilungen zusammensetzt und in einer Umgebung agiert, die das agile Denken aktiv unterstützt. Manche greifen hierbei auf Post-its oder sogar auf Spielsteine zurück. Dabei entfalten sich die Mitarbeiter völlig frei und sind dazu angehalten, jeglichen Tellerrand zu ignorieren und sich außerhalb ihrer gewohnten Bahnen zu bewegen: »Think outside the box«, lautet die Devise. Der Grundgedanke von Design Thinking ist folglich, Schaffenskraft daraus entstehen zu lassen, dass sich völlig unterschiedliche Charaktere aus unterschiedlichen Bereichen zusammen in ein Produkt hineindenken. Erfahrungsgemäß kommt nach gelegentlich zögerlichem Beginn schnell eine enorme Schaffenskraft mit erstaunlich validen Ergebnissen zustande!

 

DevOps – mit Regelkreisen eine neue Organisationsform bilden:

DevOps-Teams entsprechen kleinen eigenständigen »Schnellbooten«, die schnell zu einem Ziel, beziehungsweise zur Lösung gelangen, denn bei DevOps geht es vor allem um Geschwindigkeit. Es setzt sich aus den Wörtern »Development« und »IT Operations« zusammen und vereint somit den gesamten Lebenszyklus von Software und deren Pflege als komplexe Aufgabe. Um die hohe Geschwindigkeit zu erreichen, strebt das Vorgehen nicht an, eine zu 100 Prozent perfekte Lösung zu schaffen, sondern eine schnell marktfähige, grundlegend funktionierende Lösung bereitzustellen. DevOps schaffen dies mit verschiedenen Entwicklungszyklen, die wiederum entsprechend angepasste Qualitätsansprüche aufweisen. Dies soll jedoch nicht heißen, dass mit Erstauslieferung schlechte Qualität übergeben wird; vielmehr passen die Regelkreise der DevOps die mögliche Qualität an die geforderte Geschwindigkeit an – nicht die Geschwindigkeit an den Qualitätsstandard. Im Zweifelsfall lässt das Unternehmen lieber ein Stück der Entwicklung liegen mit der Aussicht, dieses nachzuliefern, und geht somit unvollständig an den Markt, um so das Produkt vor der Konkurrenz zu veröffentlichen.

Je höher der Qualitätsanspruch wird, desto wahrscheinlicher wird es, zeitlich hinter dem konkurrierenden Produkt zu erscheinen. Daher agieren DevOps-Teams unter der Prämisse Geschwindigkeit durch optimierte Zusammenarbeit und verbesserte Kooperation innerhalb der Teams. Dadurch kann während der Entwicklungsphase schneller auf Veränderungen reagiert werden. Wichtig ist, dass das Produkt durch eine beschleunigte Entwicklung vor der Konkurrenz auf den Markt gebracht wird und trotzdem allen Qualitätsanforderungen standhält.

 

Mit Herz und Verstand

Agile Methoden wurden entwickelt, um komplexe Fragestellungen und Probleme zu lösen. Ein agiles Unternehmen kann mit den hier beschriebenen Werkzeugen und Methoden optimal auf die jeweiligen Herausforderungen reagieren. Fehlt die Komplexität bei der Problemstellung, bedarf es keiner agilen Methode und klassische Methoden sind besser geeignet, das Problem zu lösen. Somit ist das Problem immer die Grundlage, auf der die Wahl des passenden Werkzeugs getroffen wird.

Sofern sie passend für das Problem ausgewählt werden, erweist sich der Einsatz von agilen Methoden also als vorteilhaft. Nachteile ergeben sich oftmals aus dem unternehmerischen Umfeld, wenn die Grundlage der agilen Denkweise nicht genügend im Betrieb umgesetzt wurde. Wenn beispielsweise Führungskräfte versuchen, mit hierarchischem Denken ein agiles Team zu leiten, kommt die Methode nicht zur vollen Entfaltung, wird sogar außer Kraft gesetzt und wird somit versagen. Externe Berater helfen, das Thema Agilität im Unternehmen anzustoßen, die Umsetzung zu begleiten und die Teams bei der agilen Arbeitsweise als »Bollwerk« zu schützen.

Der Faktor Mensch ist beim Thema Agilität entscheidend für das erfolgreiche Umsetzen agiler Methoden. Erst wenn das Unternehmen von der Führungsebene über alle Mitarbeiter in den Abteilungen hinweg das Thema Agilität verstanden und akzeptiert hat, für sich umsetzen kann und eine agile Arbeitsumgebung geschaffen hat, ist es möglich, agile Methoden effizient und erfolgreich zur komplexen Problemlösung einzusetzen. Denn agile Methoden erfordern immer Herz und Verstand.

Ludger Vieth, IT-Management bei CONSILIO GmbH

www.consilio-gmbh.de

 

 

 

Dieser Beitrag ist der zweite einer sechsteiligen Artikelserie.
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