Das tägliche Leben im IT-Management ist härter als jede Dschungelprüfung.
Heutige Prüfung: Altsysteme
ie Geschichte des IT-Managements ist eng verwoben mit der Geschichte von Altsystemen beziehungsweise der ewigen Frage: Was tun mit den veralteten Systemen, vulgo »Legacy-Systeme«. Interessanterweise adoptierte man in der Sprachwelt der Informationsverarbeitung hier gleich mit dem englischen Wort »legacy« einen Begriff, der sowohl mit positiven als auch negativen Bedeutungen aufwarten kann. Auf der einen Seite hätten wir das Erbe oder die Hinterlassenschaft, in der Regel eher positiv. Anders als im richtigen Leben, wo der Erbe aber eine »faule« Hinterlassenschaft ausschlagen könnte, ergibt sich diese Möglichkeit für einen neu berufenen CIO eher nicht. Er muss das Erbe seiner Vorgänger annehmen. Damit manifestiert sich eher die dunkle Seite der potenziellen Deutungen, nämlich die der Altlast.
Mit Blick auf die Verbreitung von Legacy-Systemen eröffnet sich gleich ein gigantischer Markt – es gibt eigentlich kein einziges Unternehmen, welches nicht über mindestens ein Legacy-System verfügt – wenn man einmal von den Unternehmen absieht, die vollkommen ohne den Einsatz von IuK-Technologie auskommen. Da aber irgendein System der IT als gebräuchliche Ausrede für Fehler in jedweden Unternehmensprozessen herhalten muss, ist davon auszugehen, dass dies eine leere Menge sein müsste. Nein, eher das Gegenteil scheint in der Praxis vorherrschend zu sein. Es gibt nicht nur ein Legacy-System, sondern gleich mehrere. Zurückkommend auf den ersten Satz dieses Absatzes: wo ein gigantischer Markt besteht, quasi ein Legacy-Paradies, da müsste es auch Marktführer geben, sozusagen einen Volkswagen unter den normalen Altsystemen und einen Porsche unter den rasanteren. Doch welche Enttäuschung – auch eine intensive Marktrecherche bei den größten Softwareherstellern wie Microsoft, Oracle, SAP und Sy-mantec hat ergeben, dass keines dieser Unternehmen Legacy-Systeme im Programm hat noch daran denkt, in naher Zukunft passende Software für diesen riesigen Markt anzukündigen. Überraschenderweise möchte man dort eher die Kunden dafür gewinnen, von Legacy-Systemen auf andere Systeme zu migrieren. Verschließt man hier nicht etwa die Augen vor den Bedürfnissen der Kunden, die ja anscheinend ein sehr großes Verlangen nach Legacy-Systemen haben?
Vielleicht verschafft ein näherer Blick auf die Charakteristik dieser von den globalen Schwergewichten der IT-Industrie so stiefmütterlich behandelten Systeme einen Nutzen. Eine Untersuchung der Unterarten bei den Legacy-Systemen zeigt schon, dass diese tatsächlich in allen Funktionen zu finden sind und dort genutzt werden – angefangen von ERP-Systemen über PLM- und CRM-Systeme bis hin zu produktionsnahen Bereichen wie PPS-Systemen. Viele Unternehmen wissen leider überhaupt nicht, wie weitreichend sich bereits Altsysteme in der Organisation ausgebreitet haben, so dass in vielen Fällen eine detaillierte Überprüfung der Legacy-System–Metastasierung lohnenswert erscheint. Häufig genannte Kriterien für die Klassifizierung eines Gesamtsystems oder einer Applikation als Legacy sind neben einem Betrieb auf einer abgekündigten Plattform (Hardware, Betriebssystem und/oder Datenbank) insbesondere die Programmierung in einer Sprache, die kein Anwendungsentwickler unterhalb des Renteneintrittsalters mehr versteht, mangelhafte oder fehlende Systemdokumentation (angefangen von Quellcode bis hin zu den Betriebshandbüchern) sowie fehlende Konformität mit gerade gültigem Architekturmodell oder Bebauungsplan für das Unternehmen. Damit fallen dann allerdings fast alle Anwendungssysteme innerhalb eines Unternehmens unter diese Merkmale.
Obwohl die oben genannten Kriterien keineswegs verborgen sind und nur hinter vorgehaltenen Händen unter IT-Leitern in obskuren Geheimbünden einander zugeraunt werden – es findet keine Eradikation von Legacy-Systemen statt. Nein, sie können sich ungehindert vermehren. Sie sind ein fester Bestandteil des täglichen Lebens im IT-Management, geradezu geschaffen, um die Augen zu schließen und an die guten alten Zeiten zu denken. Früher war eben alles besser. Wann sind Sie denn das letzte Mal zu den Legacy–Systemen hinabgestiegen und haben den Stimmen der Vergangenheit gelauscht?
Christoph Lüder,
LEXTA CONSULTANTS GROUP,
www.lexta.com
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