Weniger Geflüchtete auf dem Mittelmeer

Etwas mehr als 30.000 Bootsflüchtlinge sind laut Angaben der UNHCR im laufenden Jahr in Griechenland, Italien und Spanien angekommen. Wenn nicht etwas Entscheidendes passiert, dürfte die Zahl der Geflüchteten also deutlich unter der des Vorjahres bleiben. Und das wohlgemerkt obwohl gerade wieder eine ganze Reihe von privaten Seenotrettungsschiffen unterwegs ist – wie zum Beispiel bis zu ihrer Beschlagnahmung die Sea-Watch 3. Mathias Brandt

https://de.statista.com/infografik/18723/anzahl-der-ueber-das-mittelmeer-ankommenden-bootsfluechtlinge/

https://de.statista.com/infografik/18723/anzahl-der-ueber-das-mittelmeer-ankommenden-bootsfluechtlinge/

 

Rückgang der Flüchtlingsmigration um zwei Drittel gegenüber 2015 erwartet

Vor dem Hintergrund der stark gefallenen Flüchtlingszahlen geht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von einem Rückgang der Flüchtlingszuwanderung im laufenden Jahr um etwa zwei Drittel gegenüber dem Vorjahr aus.

»Sofern sich die politischen Rahmenbedingungen nicht ändern, könnten im Verlauf des Jahres 2016 300.000 bis 400.000 Flüchtlinge zuziehen. Diese Einschätzung steht aber unter dem Vorbehalt, dass das Türkei-Abkommen und die Schließung der Balkanroute Bestand haben«, erklärte der IAB-Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker am Freitag. Im Jahr 2015 wurden 1,1 Millionen Flüchtlinge erfasst. Unter der Berücksichtigung von Doppelzählungen, Weiter- und Rückreisen schätzt das IAB die Nettozuwanderung von Flüchtlingen im Jahr 2015 auf 900.000.

Flüchtlingszuwanderung

Seit November 2015 hat sich die Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland deutlich abgeschwächt. Zunächst ist die Zahl vor allem saisonbedingt, etwa durch die Witterungsbedingungen im Mittelmeerraum und entlang der Fluchtrouten zurückgegangen. Außerdem änderten die Transitländer auf der Balkanroute die Bedingungen für die Ein- und Weiterreise der Flüchtlinge. »Mit der Schließung der Balkanroute Anfang März 2016 und dem Türkei-Abkommen Ende März 2016 wurde dann die Wende eingeleitet: Seit April 2016 hat sich die Zahl der neu erfassten Flüchtlinge bei rund 16.000 Personen pro Monat eingependelt«, schreiben die IAB-Forscher Herbert Brücker, Steffen Sirries und Paul Schewe in einer aktuellen Studie.

Die Annahme von 300.000 bis 400.000 Flüchtlingen für das Jahr 2016 beruht auf einer Fortschreibung der jüngsten Entwicklung. Die IAB-Forscher stellen ihr Szenario allerdings unter einige Vorbehalte: »Dabei handelt es sich um keine Prognose im eigentlichen Sinne, weil die Entwicklung von zahlreichen politischen, rechtlichen und institutionellen Faktoren abhängt«.

Arbeitsmarkt

Auf den Arbeitsmarkt bezogen betonen die Forscher, dass das Arbeitskräftepotenzial der Flüchtlinge erst nach und nach wirksam werde. Je nach Geschwindigkeit der Entscheidungen bei den Asylverfahren wird die Zahl der Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter mit einem Schutzstatus und damit verbunden einem unbeschränkten Arbeitsmarktzugang bis zum Jahresende 2016 um etwa 160.000 Personen steigen. »Langfristig, das heißt wenn alle Schutzsuchenden registriert und die Asylverfahren durchgeführt wurden, wird die Zahl der Schutzsuchenden im erwerbsfähigen Alter, die einen unbeschränkten Arbeitsmarkzugang erhält, sich auf etwa 700.000 Personen belaufen, von denen ein Teil vor 2015 eingereist ist«, erklären die Arbeitsmarktforscher.

Berufsausbildung

Rund 70 Prozent der arbeitssuchenden Flüchtlinge und rund ein Drittel der beschäftigten Personen aus den Asylherkunftsländern haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. »Angesichts des geringen Durchschnittsalters und der allgemeinbildenden Voraussetzungen eines Teils der Flüchtlinge besteht ein hohes Bildungspotenzial«, argumentieren die Forscher. Nach einer – allerdings nicht repräsentativen – Erhebung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren 36 Prozent der 2015 registrierten Asylbewerber im Alter ab 18 Jahren auf einer Hochschule oder einem Gymnasium, 31 Prozent in einer Mittel- oder Fachschule, 23 Prozent nur in einer Grundschule und acht Prozent in gar keiner Schule. Gewichtet man die Daten mit der Bleibewahrscheinlichkeit der Flüchtlinge nach Herkunftsländern, dann haben 46 Prozent der registrierten Asylbewerber mit guten Bleibeaussichten ein Gymnasium oder eine Hochschule besucht, 27 Prozent eine Mittel- oder Fachschule, 19 Prozent nur eine Grundschule und sechs Prozent gar keine Schule. Dabei handele es sich allerdings nur um den Besuch von Bildungseinrichtungen und nicht um allgemeinbildende Bildungsabschlüsse, merken die IAB-Forscher dazu an.

Die IAB-Studie im Internet: https://doku.iab.de/aktuell/2016/aktueller_bericht_1619.pdf

 

»Die aktuelle Flüchtlingswelle ist eine riesige Chance für Deutschland«

Einer der bekanntesten Zukunftsforscher Deutschlands, Sven Gábor Jánszky, hält die aktuelle Flüchtlingswelle für eine »riesige Chance für Deutschland … nahezu ein unerwartetes Geschenk.« Denn sie werde uns vor dem Rückgang unseres Lebensniveaus bewahren, so Janszky.

Vor der Flüchtlingswelle haben wir Trendforscher prognostiziert, dass in den kommenden zehn Jahren 6,5 Millionen Menschen aus dem deutschen Arbeitsmarkt verschwinden. Vor uns stand eine Zukunft mit 2 bis 5 Millionen unbesetzbaren Jobs in Deutschland. Ich habe das Szenario in dem Buch »2025 – So arbeiten wir in der Zukunft« bereits detailliert beschrieben. Eine Welt der Vollbeschäftigung, die wir durch den massiven Verlust an Arbeitskräften erleben werden, wird für die Unternehmen zur Katastrophe. Unsere Prognose zeigte einbrechende Bilanzen bei Unternehmen wegen Produktionseinbrüchen aufgrund fehlender Menschen. Wir erwarteten dass das gesetzliche Rentenalter über 67 hinaus auf 75 Jahre steigen würde. Wir prognostizierten dass deutsche Landstriche entvölkert und überaltert sein würden, weil die wenigen Jugendlichen entweder in die deutschen Metropolen oder ins Ausland streben.

All diese Gefahren schwinden mit jedem jungen Flüchtling, der in Deutschland arbeiten, lernen und eine Zukunft aufbauen will. All jene Deutschen die heute Angst und Vorbehalte haben, werden schon in zehn Jahren von der Leistung dieser Flüchtlinge leben. Die älteren Deutschen werden schon mit 67 in Rente gehen können und nicht erst mit 75. Die jüngeren Deutschen werden erheblich weniger Steuern und Rentenversicherungsbeiträge zahlen müssen, als ohne Flüchtlinge.

Was Deutschland jetzt tun muss

Die richtige Strategie wäre es, gezielt ein großes Kontingent von vielen tausenden jungen Menschen aus Syrien, Afghanistan und den anderen Ländern nach Deutschland zu holen und mit großer Schnelligkeit zu integrieren. Als erstes sollte Studenten aus diesen Ländern die Möglichkeit gegeben werden, ihr Studium in Deutschland abzuschließen. Zudem sollten ausgebildete junge Fachkräfte aus diesen Ländern in Schnellkursen auf die Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes trainiert werden. Selbstverständlich müssen sie die sofortige Studien- und Arbeitserlaubnis erhalten.

Eine zukunftsbewusste Einwanderungspolitik darf sich nicht davor scheuen, zwischen nützlicheren und weniger nützlichen Flüchtlingen für die Entwicklung des Landes zu unterscheiden. Die Auswahl sollte bereits vor Ort in den Flüchtlingslagern und Erstaufnahmeländern im Nahen Osten erfolgen und damit einen legalen Weg zur Einreise nach Deutschland bieten. Diese Menschen, die einen wichtigen Teil der Zukunft Deutschlands sichern werden, sollten aus einem Flugzeug steigen und nicht aus Vieh-Lkw oder von Todesschiffen.

Selbstverständlich muss natürlich die humanitäre Katastrophe für »weniger nützliche« Flüchtlinge gemildert werden, sowohl in den Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland als auch in den Herkunftsländern.

Eine europäische Frage?

Wer beständig darauf hinweist, dass die Verteilung der Flüchtlinge nur durch einen europäischen Konsens zu lösen ist, der verkennt die große Chance, die sie vor allem für Deutschland bieten. Denn die Forderung nach einer gleichgewichtigen Verteilung in Europa versteht die Flüchtlinge nur als Belastung, die gleichermaßen getragen werden muss, nicht aber als Chance. Andere europäische Länder haben das demografische Problem auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht in diesem Maße, ziehen also keinen Nutzen aus einer umfangreichen Einwanderung. Deshalb sollte Deutschland die Situation nutzen und mit einer proaktiven Einwanderungspolitik den best ausgebildeten und vielversprechendsten Flüchtlingen eine schnelle Perspektive zu bieten.

Sven Gábor Jánszky (42) ist Zukunftsforscher und Direktor des Trendinstituts »2b AHEAD ThinkTank«. Auf seine Einladung treffen sich seit 13 Jahren alljährlich 300 CEOs und Innovationschefs der deutschen Wirtschaft. Unter seiner Leitung entwerfen sie Zukunfts-Szenarien und Strategieempfehlungen für die kommenden zehn Jahre. Die Studien und Trendanalysen seines Instituts zu den Lebens-, Arbeits- und Konsumwelten der Zukunft und seine Strategieempfehlungen zu Geschäftsmodellen der Zukunft bilden die Basis für die Zukunftsstrategien vieler Unternehmen.
Seine Trendbücher »2025 – So arbeiten wir in der Zukunft« und »2020 – So leben wir in der Zukunft« prägen die Zukunftsstrategien verschiedener Branchen. Mit seinen Management-Strategiebüchern »Rulebreaker – Wie Menschen denken, deren Ideen die Welt verändern« (2010) und »Die Neuvermessung der Werte« (2014) wurde er zum Sprachrohr der Querdenker und disruptiven Innovatoren in der deutschen Wirtschaft. Sein aktuelles Buch »Das Recruiting Dilemma« erklärt den rasanten Wandel des deutschen Arbeitsmarktes hin zur Vollbeschäftigung und dem Niedergang der Langzeitfestanstellung.
Der Zukunftsforscher lehrt an verschiedenen Universitäten hat aktuell Dozenturen im internationalen Masterstudiengang »Leadership” an der Karlshochschule International University sowie der Universität Leipzig. Er ist Präsident des Verwaltungsrates der 2b AHEAD ThinkTank AG in St. Gallen, Aufsichtsrat der Karlshochschule International University, Mitglied des Beirats der Management Circle AG und Präsident der »Rulebreaker-Society«, eines Businessclubs für disruptive Innovatoren.