Aus der Vergangenheit lernen: Was uns Röntgenstrahlen über künstliche Intelligenz lehren

Die Entdeckung der Röntgenstrahlen war vermutlich der entscheidende Moment, in dem sich Medizin und Physik erstmals begegneten. Für Doktoren und Physiker in aller Welt war es die perfekte Verbindung schlechthin. Daraus entstanden eine neue Industrie und ein innovatives medizinisches Fachgebiet: die Radiologie – dank Wilhelm Röntgen. Heutzutage stehen die Radiologen in der ersten Reihe im Kampf um die Erkennung und Vermeidung von Krebs.

In den letzten Jahren erreichte die medizinische Bildgebung einen weiteren Wendepunkt mit der Einführung der künstlichen Intelligenz (KI). Diese neue Technologie in Verbindung mit den Vorteilen von Deep Machine Learning und besseren Scan-Optiken erlaubte es Radiologen, ihre Effizienz drastisch zu erhöhen und die Fehlerraten deutlich zu senken.

Wenn also KI in der Tat der nächste Quantensprung ist, wie können wir dann besser verstehen, wie sie sich auf die Medizinbranche und darüber hinaus auf die Patienten, um die wir uns kümmern, auswirken wird? Um diese Frage zu beantworten könnte es sinnvoll sein, einen historischen Rückblick zu werfen, um zu untersuchen, welche Auswirkungen die Entdeckung der Röntgenstrahlen auf die Welt hatte und was man davon lernen kann.

 

Kurze Einführung in die medizinische Röntgenstrahlung

Wilhelm Röntgen entdeckte 1895 die Röntgenstrahlung, als ihm auffiel, dass nach einem seiner Experimente etwas Restlicht auf einem schwarzen Pappbogen zu erkennen war. Aus einer Laune heraus bat Röntgen seine Frau, ihre Hand vor die Strahlung zu halten. Er legte dann eine fotografische Platte hinter die Hand. Das Resultat ist die erste medizinische Röntgenaufnahme. Sie verewigt die Hand von Anna Bertha Röntgen.

Die Entdeckung der Röntgenstrahlen beflügelte unmittelbar die Fantasie und Diskussionen. Röntgens Biograph, Otto Glasser, schätzt, dass allein 1896 49 Essays und 1044 Artikel über die neuen Strahlen veröffentlicht wurden. Die Entdeckung der Röntgenstrahlung in der Medizin eröffnete völlig neue Möglichkeiten für die medizinische Bildgebung – angefangen von einfachen Röntgenaufnahmen bis hin zu komplexen dreidimensionalen CT-Scans, die noch tiefergehende medizinische Forschung und Lösungen erlauben. In Deutschland, der Heimat Röntgens, hat die Deutsche Röntgengesellschaft schriftliche Übereinkommen mit Partnern in der Radio-Onkologie, der Nuklearmedizin und der Medizinphysik vereinbart, die deutlich zeigen, wie sehr sich dieser Bereich weiterentwickelt hat.

 

Wie künstliche Intelligenz zum nächsten »Röntgen«-Moment in der Medizintechnik wird

Die künstliche Intelligenz ist bereits so weit fortgeschritten, so dass wir uns in einer Phase vergleichbar zur »Röntgen-Entdeckung« befinden. Diese Technologie, in Kombination mit dem aktuellen technologischen und gesellschaftlichen Umfeld, verspricht zu verändern, wie wir medizinische Bildgebung und vielleicht sogar den Bereich der Radiologie verstehen und betrachten. Vergleichbar damit, wie die Röntgenstrahlung uns den Blick in unseren Körper eröffnete, wird uns der Einsatz der KI-Technologie auf diesem Gebiet die Möglichkeit geben, die Effizienz zu verbessern und Krebs schneller und präziser zu erkennen.

In Europa haben Länder damit begonnen, KI in Bereichen zu erproben und einzuführen, in denen durch Technologie eine höhere Effizienz erreicht werden kann. So ist es zum Beispiel im Moment sehr zeitraubend und arbeitsintensiv ein Röntgenbild zu interpretieren. Obwohl beispielsweise die Zahl der Mitarbeiter in der Radiologie in England zwischen 2012 und 2015 um 5 Prozent gestiegen ist, stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der CT- und MR-Scans um 29 Prozent beziehungsweise 26 Prozent. Heutzutage wertet ein Radiologe alle drei bis vier Sekunden eine Aufnahme aus – acht Stunden am Tag. Das ist eine harte und anstrengende Tätigkeit, was sie fehleranfällig macht – mit möglicherweise fatalen Folgen in einem so sensiblen Bereich. Künstliche Intelligenz gibt ganz konkret Vorschläge zur Diagnose. Sie markiert Knoten oder potenzielle Tumore, so dass Ärzte konkrete Hinweise erhalten, die sie überprüfen und gegebenenfalls bestätigen können. Das steigert die Effizienz in der Phase der Bildinterpretation und macht ein Übersehen problematischer Krankheitsbilder sehr viel schwieriger. Konkret schätzt man bei Screenings zu Lungenkrebs mit KI die Zeitersparnis auf 30-50 Prozent ein.

2017 beauftragte die Deutsche Gesellschaft für Radiologie eine spezielle Arbeitsgruppe zur Früherkennung von Lungenkrebs. Ihr Ziel ist es, den Früherkennungs-Prozess von Lungenkrebs zu fördern. Deutsche Radiologen setzen dafür KI-Techniken wie Deep Learning erfolgreich ein, um Lungenkrebs bereits im Frühstadium zu erkennen. Gleichzeitig erlaubt es mehr Menschen den Zugang zu diesem Screening-Verfahren. Dies ist besonders wichtig in Regionen, in denen kaum Früherkennungstechnologie für Lungenkrebs eingesetzt wird. So gab es in Spanien bis 2014 nur ein einziges Früherkennungszentrum in Pamplona.

Es besteht also eine Lücke, die KI-Unternehmen wie Infervision mit der KI-bezogenen Medizintechnik schließen können. Das Unternehmen kooperiert bereits mit mehr als 200 Krankenhäusern und unterstützt täglich bei über 20.000 Scans. Diese erfolgreichen Pilotprojekte haben einen konkreten Effekt und retten Leben durch Prävention. Die Europäische Union nahm dies zum Anlass, alle europäischen Länder zu ermutigen und zu überzeugen, diese Technologie so schnell wie möglich einzusetzen.

Salvador Pedraza Gutierrez, Leiter der Neuroradiologie des Krankenhauses Josep Trueta in Girona, Spanien, merkt an: »Europa hat ein echtes Problem. Es mangelt an Früherkennung von Lungenkrebs mit niedrig dosiertem CT. KI ist in der Lage, ein schnelles und effektives Screening-Programm für Lungenkrebs basierend auf konventionellen Thorax-Röntgenaufnahmen zu liefern.«

Die Fragmentierung des europäischen Marktes stellt dabei eine besondere Herausforderung für die KI-Ära, in der wir uns befinden, dar.

Die Autoren eines von der Europäischen Union in Auftrag gegebenen Berichts stellten fest, dass die Zahl der Teilnehmer an den Krebsvorsorgeprogrammen in der EU weit unter dem gewünschten Niveau lag (nur 12 der 28 Mitgliedstaaten unterhielten eine Art nationales Krebsvorsorgeprogramm). Im Gegensatz dazu waren jedoch die Ausgaben für Personal und die Bereitstellung finanzieller Mittel erheblich. Dazu kam, dass ein weiterer Ausbau der evidenz-basierten Screening-Strategien erforderlich war, um die Lücken sowohl zwischen den EU-Staaten als auch innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten zu schließen.

Zu den unterschiedlichen Niveaus bei der Gesundheitsversorgung innerhalb der EU kommen zudem Unterschiede in den Bereichen Kultur, Sprache und bei Behandlungskosten und -Optionen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz, bezogen auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse der jeweiligen Länder und Regionen, kann die Abhängigkeit von überlasteten Fachkräften verringern. Dies gelingt, indem sie ihnen mit der Automatisierung von Arbeiten wie der Bildinterpretation und dem Datenaustausch zur Seite steht, was zur Reduzierung von Risiken und medizinischer Voreingenommenheit führt. Darüber hinaus besteht die Hoffnung, dass künstliche Intelligenz auch stärker in Verwaltungsaufgaben und das Abrechnungswesen mit einbezogen werden kann. Im Laufe der Zeit sollten Mediziner in der Lage sein, sich auf qualifiziertere Arbeit zu fokussieren, die durch Daten und Informationen basierend auf KI gestützt wird.

Künstliche Intelligenz wird zudem auch den Patienten zugutekommen, die sich regelmäßig untersuchen lassen wollen. In einem spanischen Bericht heißt es: »Die NLST (National Lung Screening Trial) hatte eine Falsch-Negativ-Rate von 6,3 Prozent. 66 Prozent der Lungenkrebspatienten, die nach einem negativen Screening identifiziert wurden, befanden sich in den Stadien III und IV.« In klinischen KI-Studien wurde deutlich, dass KI-Systeme die unkritischen Fälle ausschließen können. Dadurch kann Patienten erspart werden, in monatelanger Angst leben zu müssen – und Krankenhäuser arbeiten kosteneffizienter. Lungenkrebs kann so auch viel früher erkannt und diagnostiziert werden.

Es ist zu erwarten, dass neue KI-Technologien den Zugang zur medizinischen Versorgung kostengünstiger machen werden, indem sie automatisierte und effizientere Lösungen für die Analyse und Anwendung präventiver Krebsbehandlungen ermöglichen. Allein die Überalterung der Bevölkerung Europas könnte die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und für Langzeitpflege innerhalb der EU bis 2060 um bis zu 10 Prozent des Bruttosozialprodukts nach oben treiben. Angesichts dieser Zahlen kann nicht erwartet werden, dass die Gesundheitskosten in absehbarer Zeit zurückgehen. Ein Grund mehr, KI-Lösungen einzuführen, da so der Aufwand und die Kosten für die medizinische Grundversorgung in Europa gesenkt und gleichzeitig das Niveau der Gesundheitsversorgung erhalten oder sogar verbessert werden kann.

 

Unseren Blick auf KI verändern

Die Grundstimmung in der Diskussion um künstliche Intelligenz im Gesundheitsbereich verändert sich aktuell. Sie geht weg von einem negativen Bedrohungsszenario hin zu den positiven Aspekten. In Zusammenarbeit mit medizinischen Fachkräften und unterstützt durch Partnerschaften mit Technologieunternehmen zeigt sich großes Potenzial, für ein deutliches und schnelles Wachstum in der Branche.

 

Wie wird aber die Innovation der diagnostischen medizinischen Bildgebung aussehen?

Künstliche Intelligenz entwickelt sich quasi täglich in Riesenschritten weiter. Sie gibt Einblicke in Bereiche wie Quanten-Computing, künstliche neuronale Netze, Sprach- und Bilderkennung, maschinelles Lernen und Deep Learning sowie unzählige andere Techniken. Bei der Diagnostik von Lungenkrebs hat man bei Infervision beispielsweise dreihunderttausend Formen und Knoten definiert und durch Radiologen und Data Scientists verifiziert. Sie sind die Basis für Deep Learning in diesem spezifischen Fall und garantieren, dass das Deep-Learning-Modell ideal ausgestattet ist, um in jeder Situation die richtige Diagnose zu stellen.

Wie dieses Beispiel zeigt, ist die Medizintechnik dabei, das Niveau der Technologie so zu verbessern, damit sie zu einem echten Nutzen und nicht zu einer Belastung wird. Da immer mehr Krankenhäuser und Ärzte in ihrem beruflichen Alltag mit künstlicher Intelligenz konfrontiert werden und der Umgang damit vertraut wird, ist es wichtig, weiter darauf zu drängen, KI zu einem integralen Bestandteil der Medizintechnik zu machen. Dies erfordert Zeit, Forschung und gemeinschaftliche Anstrengungen aller Beteiligten. Aber es liegen bereits erfolgsversprechende Ergebnisse vor und in ganz Europa werden Fallstudien durchgeführt.

Genauer betrachtet hat der Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Unterstützung von medizinischem Fachpersonal seine Alltagswirksamkeit bereits in fünf Bereichen bewiesen: Sie steigert die menschliche Effizienz, sie unterstützt bei der medizinischen Entscheidungsfindung, sie verringert das Risiko und die Möglichkeit der Voreingenommenheit bei medizinischen Fällen. Außerdem erleichtert sie die Bildinterpretation und verbessert den Datenaustausch. Zieht man Parallelen zum Nutzen der Röntgenstrahlung für die Menschheit, sieht man, dass die Ausgangsproblematiken identisch waren, die die Röntgenstrahlen damals für Mediziner gelöst haben. Es ermöglichte tieferen Einblick in den menschlichen Körper, eine klarere Entscheidungsfindung und den Datenaustausch über Röntgenfilme. Diese Fortschritte waren es, die die medizinische Bildgebungsindustrie florieren ließen, und es ist davon auszugehen, dass dies mit der kommenden KI-Technologie weitergeführt wird.

Da immer mehr Krankenhäuser digital werden, werden Daten so wertvoll wie beispielsweise Blutkonserven.

Damit verbunden ist auch eine einmalige Gelegenheit für die Technologiepioniere in diesem Bereich, die Verfahren der Medizin im 21. Jahrhundert zu gestalten. Ziel ist es, in enger Zusammenarbeit mit Ärzten, Krankenpflegern, Radiologen und Krankenhäusern etwas zu entwickeln, das nicht nur nützlich, sondern auch intuitiv ist und Aufgaben schnell, effizient und zuverlässig erfüllen kann.

 

Kein Spaziergang: künftige Herausforderungen

In Europa hat die Einführung von künstlicher Intelligenz einige berechtigte Bedenken ausgelöst. So wie die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) einige grundlegende Richtlinien für die Nutzung des Datenschutzes im Internet definiert hat, ist es auch für den Medizinsektor positiv zu sehen, wenn einige grundlegende Regeln für die Umsetzung der KI festgelegt werden, die fundierte Anliegen wie Sicherheit, Datenschutz, Fehlinterpretation oder ein quasi blindes Vertrauen in künstliche Intelligenz adressieren.

Man sollte die positive öffentliche Meinung zu KI nutzen, mehr Transparenz und Kontrolle für deren Einsatz zu schaffen und sich der Unterstützung der Technologie durch die Ärzteschaft zu versichern. Die Technologie ist insofern nützlich, als dass sie Menschen nutzt, ihr Leben zu verbessern. Und die Frage, die man sich jetzt stellen muss, ist die gleiche wie 1903, als das Röntgen ein erstes Todesopfer forderte: Wie soll diese Technologie begriffen werden, damit man sie kontrollieren und sie zum Vorteil für die Menschheit nutzen kann?

 

Gemeinsam in die Zukunft gehen

Röntgen war ein brillanter Mensch, der die Wissenschaft nachhaltig beeinflusst hat und der mit der Entdeckung des Einsatzes von Röntgenstrahlen in der Medizin ein ganz neues Feld der medizinischen Bildgebung eröffnete. Uns ist es gelungen, die präventiven Krebsbehandlungen durch die Integration der künstlichen Intelligenz in der Medizin zu verbessern, und es gibt bereits viele positive Ergebnisse, die zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Wir stehen nun an der Schwelle zu einem neuen Sprung in die Zukunft der Medizin. Dieser verspricht, unser Verständnis und die Art wie wir Technologie nutzen um Bestehendes zu verbessern zu revolutionieren. So wie die Röntgentechnologie uns die Augen für neue Möglichkeiten geöffnet hat, hoffe ich, dass die künstliche Intelligenz unseren Geist beflügeln wird und uns erlaubt, noch größere Fortschritte in der Weiterentwicklung der Medizin und der medizinischen Versorgung unserer Patienten und Gesellschaften zu machen.

Kuan Chen, Gründer und CEO, Infervision

 


 

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