Für eine erfolgreiche digitale Transformation ist es zuerst notwendig eine übergeordnete Vision, eine sinnvolle Geschäftsstrategie und entsprechende Denkweisen im Unternehmen zu etablieren. Erst dann folgen Investitionen in Technologien.
Vor 25 Jahren wurde Deutschland erstmals zum »kranken Mann Europas« erklärt. Damals zwang die hohe Arbeitslosigkeit die Regierung zu Reformen, mit denen Deutschland in den darauf folgenden Jahren der Aufstieg vom Nachzügler zum Wachstumsführer gelang. Heute stottert der Motor der deutschen Ökonomie ähnlich wie damals, und viele Länder scheinen die aktuellen Herausforderungen besser zu meistern. In Deutschland liegen die Investitionen in Informationstechnologie – ein Schlüsselfaktor für den wirtschaftlichen Erfolg von morgen – im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt aktuell nur halb so hoch wie in den USA und in Frankreich. Dabei weiß auch der deutsche Mittelstand, wie wichtig der digitale Wandel ist. Ein Grund für diese Zurückhaltung liegt vielleicht auch darin, dass immer noch zu viele Digitalisierungsprojekte scheitern.
Digitale Unternehmenskultur als wichtiger Schlüsselfaktor. Einer der weltweit führenden Spezialisten für die digitale Transformation (DT), David Rogers, verweist immer wieder darauf, dass zwar alle Welt über das Thema diskutiert, aber immer noch Unklarheit darüber herrscht, was DT wirklich bedeutet. In seinem neuesten Buch »The Digital Transformation Roadmap« definiert er DT »als die Anpassung etablierter Unternehmen, um in einer sich ständig verändernden digitalen Welt erfolgreich zu sein«. Als Digitalisierungsberater begegnet mir bei meinen Gesprächen mit mittelständischen Kunden oft die Vorstellung, dass digitale Veränderungen mit Investitionen in neue Technologien starten müssen. Dies ist nur teilweise richtig. Tatsächlich geht es vielmehr darum, zunächst eine sinnvolle Geschäftsstrategie und entsprechende Denkweisen im Unternehmen zu etablieren.
Hürden überwinden. Viele Mittelständler versäumen es, vor dem Start digitaler Vorhaben eine klare Vision für ihr DT aufzustellen und konkrete Ziele für ihre ganz eigene Digitalisierungsidee zu entwickeln. Dabei lassen sich die sechs grundlegenden Voraussetzungen für einen gelingenden Wandel sogar recht einfach benennen:
- Schaffung einer gemeinsamen, von allen im Unternehmen geteilten digitalen Vision.
- Konzentration auf die zunächst wichtigsten digitalen Aufgaben.
- Kontinuierliche Validierung neuer digitaler Ansätze und Vorhaben.
- Flexible Steuerung durch einen Governance-orientierten Führungsstil.
- Entwicklung geeigneter technologischer Infrastruktur und Aufbau passender digitaler Talente und Fähigkeiten.
- Ausbau einer echten Datentransparenz.
Schaffung einer einzigartigen digitalen Vision. Unternehmen haben zudem meist keine klare Vision für ihre Veränderungsprozesse. Sie sprechen zwar über DT, verwenden jedoch oft zu vage Begriffe (»digital sein« oder »zukunftssicher werden«). Gewohnheiten lassen sich bekanntlich nur schwer ändern – gerade dann, wenn die aktuelle Situation (noch) nicht als existenzielle Krise wahrgenommen wird. Für die Entwicklung einer solchen Vision, die von allen verstanden und einzigartig sein sollte, müssen sich Unternehmen grundlegend fragen, welche Rolle sie in der zukünftigen Welt spielen möchten und welches besondere Angebot sie ihren Kunden jetzt und in Zukunft machen können.
Priorisierung der wichtigsten Aufgaben. Einige Unternehmen begreifen Digitalisierung vor allem als Kostensenkungsmaßnahme oder führen ihre digitalen Projekte isoliert und im sprichwörtlich luftleeren Raum durch – ohne eine fokussierte Strategie, in der sie klare Wachstumsprioritäten setzen und dadurch die grundlegende Richtung ihrer digitalen Reise vorgeben. Zunächst sollte aber zunächst vor allem genau das Problem herausgefiltert werden, das für die eigenen Geschäftsziele aktuell am wichtigsten ist. Dabei dürfen sie sich nicht von der Technologiefrage ablenken lassen: Bevor sich ein Unternehmen etwa über den Einsatz von Chat-GPT-Anwendungen Gedanken macht, sollte es sich zunächst überlegen, wie die allgemeine KI-Strategie überhaupt aussehen soll. Für eine erfolgreiche DT muss sich die interne Sichtweise ganz an der übergeordneten Vision orientieren.
Experimente wagen und überprüfen. Viele Unternehmen nutzen für ihre DT ihre traditionell bewährten Planungsansätze, anstatt neue auszuprobieren. Dabei sind Methoden aus der Vergangenheit im digitalen Kontext häufig nicht mehr erfolgreich. Es sollten eher agile Konzepte zur Anwendung kommen, angelehnt an die Lean-Startup-Prinzipien, mit denen sich Projekte kontinuierlich testen und validieren lassen. Und ja, dafür müssen Unternehmen tatsächlich Risiken eingehen, Experimente wagen und ihre bisherigen Business-Annahmen auch immer wieder hinterfragen. Dafür ermöglichen ihnen agile, testorientierte Ansätze eine kontinuierliche Lernkurve, durch die sie ihre Transformationsprozesse kontinuierlich an die realen Bedingungen anpassen können.
Moderne Governance für eine agile Unternehmensführung. Eine nicht zu unterschätzende, wenn nicht sogar die wichtigste Rolle für eine erfolgreiche Transformation, spielt ein an modernen Governance-Prinzipien ausgerichteter Führungsstil, der das Unternehmen immer wieder ganzheitlich in den Blick nimmt und die geschäftliche Strategie an sich verändernde Faktoren anpasst. Unternehmen sollten bei ihren digitalen Vorhaben nicht in erster Linie an Kostensenkungen denken, sondern an potenzielle neue Einnahmequellen durch die Entwicklung digitaler Services. Dafür müssen die innerbetrieblichen Teams allerdings befähigt werden, multifunktional zusammenarbeiten.
Digitale Unternehmenskultur leben. Der Wettbewerbsvorsprung vieler heute führender Unternehmen basiert darauf, dass sie eine wirklich digitale Kultur leben. Digitalpioniere haben für sich klare Führungsprinzipien entwickelt und integrieren die Digitalisierung in ihre täglichen Prozesse zur Erfüllung dieser Prinzipien. Natürlich braucht es dafür auch frischen Wind und neue Leute mit innovativen Ideen in den Führungsgremien. Mittelständler müssen hier unbedingt dazulernen – in unseren Untersuchungen der 150 größten Familienunternehmen in Deutschland stellen wir immer wieder fest, dass diese in Bezug auf digitale Kompetenz und Transformationserfahrung im Vergleich zurückliegen, was in einer digital geprägten Welt ein entscheidender Wettbewerbsnachteil ist. So verfügten 2022 über 83 Prozent der Aufsichtsräte in dieser Unternehmenskategorie über keine ausreichenden digitalen Kenntnisse und 37 Prozent von ihnen waren nicht auf sozialen Plattformen aktiv [1]. Und nur ein Viertel der befragten Vorstandsmitglieder besitzen ausgewiesenes digitales Fachwissen oder Erfahrungen in führenden Technologieunternehmen. Dies führt nicht nur zu einem Mangel an Verständnis für die heutige digitale Welt, es fehlt auch der wichtige Austausch über digitale Trends auf höchster Ebene.
Datentransparenz für datengetriebene Weiterentwicklung. Damit digitale Vorhaben erfolgreich sein können, müssen Mittelständler natürlich auch ihre Systeme und Infrastruktur entsprechend anpassen und ausstatten. Damit Informationen zwischen unterschiedlichen Abteilungen und Managementteams fließen können, müssen Datensilos aufgebrochen werden – nur so lassen sich die in allen Unternehmen bereits verfügbaren Daten überhaupt nutzen und für das weitere Wachstum einsetzen. Software- und Hardware-Infrastrukturen müssen so eingerichtet werden, dass sich neue Funktionen problemlos hinzufügen lassen.
Digitale Transformation ist kein Selbstzweck. Aus dem Bauhaus kennen wir alle das bekannte Designprinzip »Form follows function« – dieses Verständnis lässt sich sehr gut auf die DT übertragen: Nicht die Investition in Technologie ist entscheidend, sondern die dahinterstehenden Unternehmensziele. Digitalisierung ist nie Selbstzweck, sondern braucht eine klar definierte und eine für jedes Unternehmen einzigartige Strategie. Nur Mittelständler, die es schaffen, eine echte digitale Unternehmenskultur zu entwickeln, werden auch in einer sich immer schneller drehenden Welt künftig genügend Handlungsspielraum haben, um ihr Wachstum voranzutreiben.
Dr. Stefan Sambol ist neben Toni Stork, Dr. Anja Konhäuser und Christiane Jauch einer der vier Gründer der auf nachhaltige digitale Innovation spezialisierten Strategieberatung OMMAX. Als Experte für digitale Unternehmensberatung und Strategie berät er mittelständische Unternehmen sowie internationale Finanzinvestoren bei der Umsetzung digitaler Wertschöpfungsprogramme und unterstützt auch bei der Akquisition und Bewertung digitaler Geschäftsmodelle.
https://www.ommax-digital.com/de/
[1] https://www.ommax-digital.com/en/insights/newsroom/german-family-businesses-neglect-digital-competence-in-supervisory-boards