Spielen für die Demenzforschung

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Demenz breitet sich derzeit schnell aus, doch dabei ist die Krankheit noch relativ unerforscht. Eine App soll das jetzt ändern. Mit dem neu entwickelten Smartphone-Spiel »Sea Hero Quest« nutzen Wissenschaftler erstmals Crowdsourcing, um in großem Umfang Daten zu generieren, die die Demenzforschung einen großen Schritt nach vorne bringen.

In welchem Regal steht der Tee nochmal, wozu brauchte ich eigentlich die Milch und warum steht der Kühlschrank offen? Fragen, über die wir im Alltag nicht weiter nachdenken, weil unser Gehirn Aufgaben wie Kaffee oder Tee kochen mit Leichtigkeit meistert. Anders ist es bei Menschen mit Demenz. Ihnen fällt es schwer, selbst solche kleinen Aufgaben zu erledigen, sich Dinge zu merken und sich im Alltag zu orientieren.

Demenz kann jeden treffen – unabhängig von Alter, erblicher Veranlagung, Lebensstil oder sozialem Status. Kaum eine Krankheit wächst so schnell und ist so wenig erforscht. Derzeit wird alle 3,2 Sekunden bei einem Menschen Demenz diagnostiziert. Nach Angaben des »Global Alzheimer’s Report 2015« leben derzeit knapp 50 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung wie zum Beispiel Alzheimer. 2030 werden rund 75 Millionen sein, 2050 schon 135 Millionen Menschen von Demenz betroffen sein, davon rund drei Millionen in Deutschland. Damit entwickelt sich Demenz langsam aber sicher zu einer Volkskrankheit und stellt eine der größten medizinischen Herausforderungen unserer Gesellschaft dar.

Schleichend zur Volkskrankheit:
Bei vielen Fragen tappen die Forscher jedoch noch im Dunkeln: Welche Medikamente helfen langfristig, welche Formen der Vorbeugung gibt es und worin unterscheidet sich die Krankheit von anderen Alterungsprozessen? Wirksame Therapien, die Demenz aufhalten oder heilen, gibt es bisher nicht. Das kann sich jetzt ändern, denn mithilfe des neu entwickelten Smartphone-Spiels Sea Hero Quest soll die Grundlagenforschung für Demenz einen großen Schritt nach vorne gebracht werden. Ziel des Projekts ist es, einen Teil der drei Milliarden Stunden, die Menschen weltweit jede Woche mit Onlinespielen verbringen, für die Forschung zu nutzen. Die Idee scheint zu funktionieren: Bereits wenige Wochen nachdem die Deutsche Telekom Sea Hero Quest vorgestellt hat, haben weltweit mehr als zwei Millionen Menschen die App heruntergeladen. Hinter dem bisher einmaligen Projekt verbirgt sich jedoch nicht nur die Telekom, das Bonner Unternehmen hat das mobile Spiel gemeinsam mit dem University College London, der University of East Anglia, der gemeinnützigen Organisation Alzheimer’s Research UK sowie dem Spieleentwickler Glitchers entwickelt.

Abenteuer auf hoher See
Die Handlung des Spiels ist emotional und eingängig: Auf dem Meer erlebt ein Seemann mit seinem kleinen Sohn viele Abenteuer. Mit zunehmendem Alter verblassen jedoch seine Erinnerungen an die Entdeckungsfahrten, die seltenen Meeresungetüme und wo sie auf den Weltmeeren zu finden sind. Der Sohn entschließt sich dieses Wissen zu retten, indem er selbst die alten Routen des Vaters noch einmal abfährt. Genau das ist das Ziel des Spielers: Er durchquert mit seinem kleinen Fischkutter verschiedene Landschaften wie das Eismeer, die Südsee oder Sümpfe und löst dabei unterschiedliche Aufgaben. In einem Labyrinth aus vielen kleinen Buchten und Inseln, gilt es mit dem Boot möglichst schnell den richtigen Kurs zu finden und die nächste Boje anzusteuern. Muss der Spieler am Anfang noch lediglich zwei Bojen anfahren, werden die Aufgaben mit zunehmender Spieldauer komplexer. Außerdem bewertet das Spiel, wie schnell man das Boot durch die Meereslabyrinthe steuert. Hat man sich total verirrt und weiß nicht weiter, kommt nach einiger Zeit eine Hilfestellung in Form eines Wegweisers. Das erhält die Freude am Spiel, denn neben dem Finden von Bojen, gilt es noch weitere Aufgaben zu lösen.

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»Die Spieler sind beispielsweise aufgefordert, eine Leuchtrakete zurück zu dem Punkt zu schicken, an dem sie gestartet sind. Wissenschaftler können so feststellen, wie gut Spieler ihren Startpunkt zurückverfolgen können«, sagt Professor Stephan A. Brandt, stellvertretender Direktor an der Klinik für Neurologie der Charité in Berlin, der die Telekom bei dem Projekt wissenschaftlich berät. »Das Besondere an dem Spielkonzept ist, dass man durch die unterhaltsamen Aufgaben systematisch dazu inspiriert wird, verschiedene Arten der räumlichen Orientierung anzuwenden und bestimmte Transferleistungen zu machen, die den Charakter einer neuropsychologischen Untersuchung haben«, erklärt Professor Brandt. Steuert der Spieler sein Boot durch ein Labyrinth, erhalten die Wissenschaftler Daten darüber, wie das Gehirn einen Menschen durch einen dreidimensionalen Raum lenkt und welche Entscheidungen es dabei trifft. Dafür wird alle 0,5 Sekunden der Weg des Spielers über ein definiertes räumliches Raster erfasst.

Zwei Minuten ersetzen 50 Jahre Forschung
»Alle Spieler zusammen haben bislang Navigationsdaten gesammelt, deren Erhebung unter Laborbedingungen mehr als 1.500 Jahre benötigt hätte«, erklärt Prof. Michael Hornberger, Professor für Demenzforschung an der Universität von East Anglia. Die Projektteilnehmer des Spiels schreiben der traditionellen Forschungsmethode eine Orientierungsentscheidung (= ein Datenpunkt) pro Minute zu. Das Konzept des Onlinespiels hingegen beinhaltet Methoden des maschinellen Lernens, um jedes Manöver des Spielers zu interpretieren und zu analysieren und sammelt so 150 Datenpunkte pro Minute. Hornbergers Fazit: »Spielen 100.000 Menschen das Spiel nur zwei Minuten lang, werden so viele Daten gewonnen wie in 50 Jahren herkömmlicher Forschungsarbeit. Damit die Forscher die gewonnenen Daten möglichst gut nutzen können, ist es wichtig, dass möglichst viele Spieler Angaben zu Alter, Geschlecht und Herkunftsland machen.«

Diese Daten werden dringend gebraucht. Die Einschränkung der räumlichen Orientierung ist bei vielen Demenzkranken ein frühes und alltagsrelevantes Symptom. Forschern in aller Welt liegen zwar Daten von Erkrankten vor, aber kaum Vergleichsdaten von gesunden Menschen. Sea Hero Quest schafft hier Abhilfe. Mit dem Spiel erhalten Wissenschaftler erstmals anonyme Daten über das Navigationsverhalten und die räumliche Orientierung von Millionen Menschen unterschiedlichen Alters über den gesamten Globus.

»Sea Hero Quest zeigt, welche enormen Chancen und Möglichkeiten die Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet. Nämlich ganz neue Ansätze, Daten für die Forschung zu erheben und Therapien so wesentlich besser und schneller zu entwickeln«, sagt Dr. Axel Wehmeier, Geschäftsführer der Telekom Healthcare Solutions. Zum Vergleich: Die bisher größte Studie zur räumlichen Orientierung umfasste 600 Teilnehmer – Sea Hero Quest wurde wenige Wochen nach Veröffentlichung bereits über zwei Millionen Mal heruntergeladen, so Wehmeier. Und wer weiß, vielleicht ist Sea Hero Quest der Auftakt für eine ganz neue Form der Forschung, bei der Wissenschaftler Daten mithilfe von mobilen Spielen erheben.

Spielen für die Demenzforschung kann jeder. Das Spiel Sea Hero Quest gibt es kostenlos in den Appstores von Apple und Google. Die anonymen Daten werden jedoch erst bei Spielern ab 18 Jahren ausgewertet und nur dann, wenn der Spieler seine Daten für die Forschung freigibt. Dazu werden nur die Angaben zu Geschlecht, Alter und Herkunftsland anonym in einem Rechenzentrum der Telekom in Deutschland gespeichert. Die Daten gehören der Telekom, auswerten darf sie das University College London. Weitere Wissenschaftler können einen Zugang beantragen.



Die Digitalisierung bietet der Medizin große Chancen

Drei Fragen an Dr. Axel Wehmeier, Geschäftsführer Telekom Healthcare Solutions

Herr Dr. Wehmeier, die Telekom unterstützt mit einem App-Spiel die Demenz-Forschung. Welche Möglichkeiten bieten neue Technologien die Gesundheit zu verbessern?
Da gibt es schon ziemlich viele: »Wearables« warnen vor Herzinfarkt, Handykameras erkennen Hautkrebs oder Apps sammeln Vitalwerte wie Blutdruck, Gewicht oder Blutzuckerspiegel. Erste Nutzer bringen solche Daten inzwischen zu ihrem Arzttermin mit. Nach Umfragen nutzen bereits rund ein Drittel der Bundesbürger Fitness-Tracker und messen damit ihre sportlichen Leistungen oder medizinische Körperwerte. Das zeigt, die Akzeptanz in der Bevölkerung ist bereits vorhanden. Viele Konzepte für weitere Lösungen schlummern noch in den Schubladen der Entwickler.

Kritiker befürchten bei der Digitalisierung einen mangelnden Schutz von Gesundheitsdaten.
Die Digitalisierung bietet große Chancen, die medizinische Versorgung zu verbessern. Dokumentationen auf Papier, wie manche sie fordern, sind für die Gesundheitsbranche keine Lösung. Sie sind das Problem. Zum einen sorgen sie für Ineffizienz und explodierende Kosten, zum anderen können Wissenschaftler die Daten nicht aufbereiten. Wer kann schon sagen, welche medizinischen Erkenntnisse heute ungenutzt in den Archiven schlummern, weil wir den großen Schatz an Behandlungsdaten nicht digital zusammenführen und analysieren? Das Beispiel der Spiele-App Sea Hero Quest zeigt, mit welchen modernen und wirkungsvollen Methoden wir die Demenz-Forschung voranbringen, damit diese Krankheit eines Tages heilbar ist.

Was antworten Sie den Kritikern in Sachen Datenschutz?
Selbstverständlich müssen wir für die Sicherheit medizinischer Daten sorgen – und das tun wir auch mit unseren Sicherheitslösungen und Rechenzentren entsprechend den Vorgaben des deutschen Datenschutzgesetzes. Aber wir dürfen die Chancen der Digitalisierung nicht verschenken, denn sie birgt große medizinische Fortschritte. Ein Beispiel: In Deutschland sterben jedes Jahr mehr Menschen an unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen als im Straßenverkehr! Würde man Ärzte verpflichten, beim Verschreiben von Medikamenten mit einem Onlinecheck die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten zu überprüfen, könnten viele Leben gerettet werden.



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