Zwischen Gründerfieber und etabliertem Unternehmen: Wann ist ein Start-up erwachsen?

»Stimmt, der Kicker wird auch nur noch zu Feiern rausgeholt«, lacht Philipp Lyding. Vor fast sieben Jahren hat er gemeinsam mit Michael Kessler Energieheld gegründet und verantwortet heute alle IT-Entwicklungen des Start-ups. Die Idee damals war sehr simpel: »Wir wollten Hausbesitzern dabei helfen, ihr Haus möglichst energieeffizient zu sanieren. Seitdem hat sich eine Menge getan und auch die Firma selbst hat sich dadurch enorm verändert.« Angefangen hat alles mit der Website energieheld.de, auf der Hausbesitzer Informationen zur Sanierung erhalten und eine Anfrage stellen können. Die Energieheld-Kundenberater besprechen telefonisch alle Details, informieren über Fördermöglichkeiten und übergeben den Auftrag an einen Handwerkspartner von Energieheld. Dieser führt dann beim Kunden das Projekt durch. So weit so gut, die Umsetzung lief allerdings nicht immer ganz reibungslos.

 

Wachstumsschmerzen einer jungen Firma

Im hart umkämpften Markt der Technologie-Start-ups scheitern 9 von 10 in den ersten drei Jahren. Wer überleben will muss verstehen, wo die eigene Nische liegt und im schlimmsten Fall das liebgewonnene Geschäftsmodell kritisch hinterfragen und einen Richtungswechsel einschlagen. Auch Energieheld hatte eigentlich mal einen anderen Plan: »Wir wollten die private Energiewende in Deutschland voranbringen und das ist immer noch ein wichtiger Teil unserer Geschäftsmodells. Energieheld.de, unsere Kundenberater und Handwerkspartner sind die Basis, auf der wir stehen. Alle zusammen nutzen nämlich jeden Tag unsere IT-Infrastruktur. Für das ursprüngliche Geschäftsmodell haben wir damals eine Website gebaut, die Anfragen in unser CMS speist. Von dort können die konkreten Aufträge dann über die integrierte Software-as-a-Service-Lösung an die Handwerker weitergegeben werden. Das alles benutzen wir selbst für unseren Arbeitsalltag und lizensieren es jetzt auch für KMU oder andere Start-ups«, berichtet Lyding.

links Philipp Lyding, rechts Michael Kessler

Deshalb ändert sich ab 2019 auch die Firmenstruktur: Das neu gegründete Plattformunternehmen Lyke bietet alles rund um Softwareinfrastruktur und die Energieheld GmbH wird zum hundertprozentigen Tochterunternehmen. »Ohne Energieheld gäbe es kein Lyke und umgekehrt. Wir sind also selbst unser bester Kunde«, lacht Kessler. »Trotzdem ist es für uns ein großer Schritt, weil wir sozusagen noch eine Ebene einziehen. Natürlich möchten wir nicht, dass dadurch die Distanz zum Team und untereinander größer wird, sondern dass alle mitgenommen werden. Neben der Kommunikation ist uns extrem wichtig, das Team so früh wie möglich in den Prozess einzubinden.«

 

Mit dem Team wächst auch die Verantwortung

Das Start-up hat damit Erfolg und muss für mittlerweile 26 Festangestellte – Tendenz steigend – die Strukturen ganz neu denken. Der allererste Mitarbeiter ist bis heute dabei und hat erlebt, wie aus einer Idee ein junges Unternehmen wurde, das auch schwierige Entscheidungen fällen muss. Stephan Thies ist direkt nach dem Studium bei Energieheld als Praktikant eingestiegen und leitet mittlerweile den gesamten Marketing-Bereich. »Wir saßen zu dritt an einem großen Tisch und als ein neuer Kollege eingestellt wurde, konnte er nur auf dem Sofa arbeiten«, erinnert sich der Wirtschaftswissenschaftler. »Da haben wir alles über Zuruf beschlossen und konnten jede Kleinigkeit zusammen ausdiskutieren – das geht heute zwar nicht mehr so schnell, aber ansonsten ist es ähnlich. Schnell sein, gut mitarbeiten und Verantwortung übernehmen ist heute genauso wichtig wie damals.«

»Wir können nicht mehr jede Entscheidung gemeinsam besprechen«, erklärt Co-Gründer Philipp Lyding. »Am Anfang wusste ich bei allen genau, was sie oder er gerade macht und heute gibt es Abteilungen, in die ich einfach keinen täglichen Einblick mehr habe. Wir haben nach und nach Verantwortung an die Abteilungsleiter übertragen und stecken unsere Energie vor allem in neue Partnerprojekte.« Lyding meint damit die Partner der Plattformlösung, die seit gut einem Jahr auch von Mittelständlern und Konzernen lizensiert wird. Dazu gehören der Elektrogroßhändler Sonepar, der Schweizer Energieversorger CKW und seit Kurzem auch Bosch Buderus.

 

Professionell oder doch spießig? Wie der Start-up-Spirit erhalten bleibt

Verändern solche Kooperationen zwischen Start-up und Mittelstand auch die Arbeit bei Energieheld/Lyke? Michael Kessler muss nicht lange nachdenken: »Nein, nicht was das Wesentliche angeht. Natürlich verlangen solche Kooperationen extreme Professionalität, viel Arbeit und Einsatz, aber das war uns von Anfang an wichtig. Wer glaubt, dass Start-ups den ganzen Tag kickern, versteht nicht, wie schwierig der Aufbau einer neuen Firma ist.«

Denn die Konkurrenz ist groß: Das Leistungsangebot Software-as-a-Service ist unter deutschen IT-Start-ups mit Abstand das häufigste. Insgesamt 39 Prozent der befragten Jungunternehmen setzen auf die neue Technologie (Bitkom Start-up Report 2018).

»Einerseits ist man so natürlich auf dem richtigen Weg, aber es erhöht auch den Druck für uns«, erklärt Kessler. »Wir versuchen, das nicht an die Mitarbeiter abzugeben und haben auch für uns gelernt erst dann über ein Projekt zu sprechen, wenn der Vertrag unterzeichnet ist.« Gleichzeitig möchten die beiden ihre MitarbeiterInnen so viel es geht in die Entwicklung einbeziehen. Seit Kurzem gibt es das sogenannte Future-Team, das für Ziele und Wünsche der Belegschaft und Gründer zuständig ist. Von Weiterbildung, über Personalentwicklung, Büroausstattung und Teamfeiern – alles soll möglichst demokratisch und transparent funktionieren.

Stephan Thies ist auch Teil des Teams und freut sich über die Entwicklung: »Es zeigt, dass wir uns wirklich anders aufstellen wollen, als andere Firmen, die seit 40 Jahren immer komplizierter und unzufriedener zusammenarbeiten. Klar schleicht sich bei uns auch Routine ein und das ist auch okay, aber durch solche Aktionen versuchen wir, den Austausch zwischen allen und gerade mit der Geschäftsführung am Laufen zu halten.«

Gestaltungswille und ein gutes Miteinander sind im Team ausdrücklich erwünscht und sicherlich ein Grund, warum Energieheld zu Lyke weiterwachsen konnte. Welche Tipps haben die beiden Gründer noch? »Eine Portion Mut, Verantwortungsbewusstsein und Spaß an der Sache«, überlegt Kessler. Am Ende ist Erwachsenwerden also doch für alle gleich.

 


 

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