Autonomie ist Key: Der am stärksten unterschätzte Aspekt der Softwareentwicklung – Die Autonomie des Menschen achten

Die Softwareentwickler müssen den Menschen wieder über das Tools setzen. Nicht die App steht im Mittelpunkt sondern der Mensch und die Interaktion zwischen den Menschen.

Was machen Menschen morgens als erstes? Laut einer Studie von Deloitte werfen über 40 Prozent der Deutschen innerhalb von 15 Minuten nach dem Aufwachen den ersten Blick auf ihr Smartphone. Der weitere Tagesablauf ist geprägt von E-Mails, Zoom-Calls, Whatsapp und Social Media. Vergisst man das Smartphone zu Hause, fühlen sich viele Menschen hilflos. Während der Corona-Pandemie hat sich dies weiter verstärkt. So berichten 62 Prozent der 18- bis 24-Jährigen von einer deutlich intensiveren Nutzung als vor Covid-19.

Aber es gibt auch eine gegenläufige Entwicklung: 63 Prozent der Erwachsenen versuchen ihre Geräte-Nutzung einzuschränken. Viele Menschen realisieren, wie sie von ihren Geräten und den Tech-Konzernen vereinnahmt werden. Tech-Unternehmen fokussieren sich überwiegend auf die Akquise aktiver Nutzer und deren Konsumförderung; eine ständige Interaktion mit Geräten und Services wird als Erfolgsindikator gesehen.

Es gibt für Unternehmen dabei viele Möglichkeiten uns abhängig zu machen und unsere Freiheit im Digitalen zu untergraben, sei es durch Automatisierung, Filterblasen und Empfehlungsmaschinen, erzwungene Opt-ins zur Datenerfassung und Überwachung, die Förderung von Gewohnheiten, Paternalismus mit Nudging und unvorteilhafte Standardeinstellungen – die Liste ist lang. Aber es geht auch anders.

Verantwortliches Design stellt die Menschen in den Mittelpunkt. Zur Lösung dieser Probleme müssen wir bereits bei der Entwicklung von Apps ansetzen. Dabei sollten wir den Prinzipien von verantwortlichem, ethischen Design folgen, mit einem besonderen Fokus auf Design for human Autonomy  – Design für menschliche Autonomie. Dabei werden menschliche Bedürfnisse wie Autonomie und individuelle Werte respektiert. Apps, Dienstleistungen und Institutionen die nach diesem Ansatz gestaltet und entworfen werden, erfüllen drei Bedingungen:

  1. Das Individuum und die Interaktion zwischen den Menschen stehen an erster Stelle – vor der App selbst.
  2. Die Nutzer werden ermächtigt, am Ende weitgehend ohne die App selbst auszukommen.
  3. Die in der App »verbauten« Werte sind transparent – und die Werte und Ziele der Nutzer werden respektiert.

Das Individuum und zwischenmenschliche Interaktion im Mittelpunkt. Ein gutes Beispiel für das erste Prinzip bieten Social Media und Dating Apps. Tinder und Bumble bieten die Option, schnell und einfach mit zahllosen Menschen in Kontakt zu treten. Dies führt leicht zu einem Gefühl der Wahllosigkeit und Überforderung. Die Folge: Viele Nutzer und Nutzerinnen sind in einer Endlosschleife gefangen und suchen nach immer besseren »Matches«.

Eine Verbesserungsvorschlag: Sobald sich die ersten Matches gefunden haben, sollte die App beim nächsten Start keine weiteren Personen zur Auswahl bieten, sondern die Chat-Option als Einstieg zeigen. Eine kleine Änderung mit großer Wirkung. Darüber hinaus könnten diese Apps zum Beispiel Tipps und Kurse zu den Themen Small Talk und Kommunikation anbieten, um damit ihre Einnahmequellen zu erweitern.

Dabei stehen das Individuum und die Verbundenheit – die Interaktion zwischen Menschen – im Vordergrund und nicht die Nutzung von Apps und Technologien an sich. Viele Unternehmen und Softwareentwickler kennen dieses Prinzip bereits, der erste zentrale Wert des agilen Manifests stellt auch den Menschen über die Tools – aus guten Gründen.

Nutzer und Nutzerinnen ermächtigen, ohne die App auszukommen. Ein Beispiel für die zweite Forderung zeigt sich in der Nutzung von Navigations-Apps. Viele Menschen finden dadurch schneller und einfacher ans Ziel. Ein (unerwünschter) Effekt, neben dem viel kritisierten Datensammeln und der Überwachung, ist, dass wir selbst auf Wegen, die wir schon kennen, die App einschalten. Wer kennt diesen Effekt nicht? Nach mehrmaligem Nutzen der App fühlen wir uns sicherer und fangen an, an uns zu zweifeln, wenn wir keine digitale Unterstützung haben. So wird die digitale Krücke zu einem Teil von uns selbst.

Wäre eine App, die uns indirekt anleitet, uns selbst besser zurecht zu finden, nicht viel besser? Ein Lernmodus, in dem wir langsam unsere Umgebung und die Strecke besser kennenlernen und die App und digitale Unterstützung selbst immer weiter in den Hintergrund rutscht. Hierzu gehört der Mut der Anbieter, in die Nutzer zu investieren und zu ermächtigen, am Ende vielleicht weitgehend ohne das Gerät oder den Service selbst auszukommen.

Die Werte der Nutzer und Nutzerinnen respektieren. Nicht alle Menschen verfolgen dieselben Ziele und Werte. Was einer Person Freiheit gibt, kann andere Menschen einschränken. Anbieter von Dienstleistungen und Services müssen sich mit den eigenen Werten auseinandersetzen, diese transparent machen und eine konsistente Umsetzung in der Entwicklung verfolgen (Konzepte wie »Value sensitive design« oder »Design for Values« bieten einen guten Anfang).

Diese kritische Auseinandersetzung verbessert auf der einen Seite die Qualität der Produkte, auf der anderen Seite fördert sie auch die Transparenz und das Vertrauen der Anwender. Statt lästiger Banner die Zustimmung zu Cookies und AGB zu erzwingen, könnte am Anfang ein Banner über die Verpflichtung der Firma und ihrer App gegenüber den Werten der Nutzer informieren. Die Gewinnung und das Halten des Vertrauens von Konsumenten ist eins der wichtigsten Strategien für Unternehmen.

Fazit: Win-win-win. Design for human autonomy ist ein Win-win-win für den Menschen, die Gesellschaft und das Unternehmen – weil das Individuum besser seine Ziele erreicht, die Interaktionen die Gesellschaft stärken und das gewonnene Vertrauen sowie neue Dienste weiteren Umsatz bringen.

 


Als Psychologe und Berater bei Thoughtworks, ist Alexander Steinhart Experte an der Schnittstelle von Sozialwissenschaften und Technologie. In seiner täglichen Arbeit unterstützt er Unternehmen, von der Idee bis zur fertigen Umsetzung, in allen Produktfragen. Seine Pionierarbeit zu menschlicheren Technologien wurde von Google und Apple übernommen, hervorgehoben von TIME, von der ZEIT kommentiert und im Futurium ausgestellt. Zudem ist er Herausgeber des »Responsible Tech Playbook«, ein Leitfaden der Unternehmen hilft bessere Technologieentscheidungen zu treffen.
www.thougthworks.com

 

 

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