Cluster-Recruiting als Symptom einer alten deutschen Krankheit – Veränderung ja, verändern nein

Schon wieder lese ich, dass gut jedes vierte deutsche Unternehmen Stellenabbau plant, das sind immerhin 25 Prozent, und zugleich liegt man regelrecht mit dem Fernglas auf der Lauer. Ob sich nicht doch irgendwo im Land eine Fachkraft finden lässt? Bei mehr als drei Millionen Unternehmen im Land bleiben Stellen unbesetzt.

Eine Begründung dafür ist natürlich, dass irgendetwas immer los ist. Energiekrise, Klimakrise, Pandemie, politische Auseinandersetzungen, Rezession und nicht zu vergessen: die Inflation. Die Teuerungsrate muss ausgeglichen werden, indem wir weiter das tun, was wir immer tun: Verlagerungswirtschaft betreiben. Am besten in Billiglohnsektoren ausweichen, da sparen wir nicht nur Geld, sondern auch Personal. Und das ist ja ohnehin Mangelware.

Der Ruck des »Wümmschens« im Land ist deutlich zu spüren. Alles läuft, wie immer schleppend, dafür umso so schneller in die Rezession. Der Fachkräftemangel, in Teilen mehr politisches Instrument als Realität, erlaubt es Betrieben, im antiquierten Cluster-Denken zu verharren. Cluster-Kompetenzen zerstören das Vertrauen, die Motivation und den Unternehmenserfolg. A-, B-, C-Kandidaten, im Übrigen schon lange out, bedeutet auch A-, B-, C-Unternehmen. Darüber machen sich viele Arbeitgeber immer noch zu wenig Gedanken. Schließlich stehen wir ohnehin in einer brisanten Veränderungslage. Warum aufbauen, wenn von schnellem Abbau die Rede ist? Anlässe hierzu bieten politische Entscheidungen und wirtschaftliche Entwicklungen zuhauf. Die Frage nach dem richtigen Kandidaten erübrigt sich ob der Tatsache, dass ein Großteil der Betriebe nach wie vor im Cluster-Verfahren sondiert. Praktisch, oder doch nicht?

Deutsche Meister in Ausreden. Deutsche Unternehmen beschweren sich, dass Hunderte Bewerber fehlen. Aber wieviele Absagen haben sie zuvor erteilt?  Deutsche Unternehmen beschweren sich, Deutschland habe keine Fachkräfte. Vielleicht weil kein Kandidat recht ist? Deutsche Unternehmen beschweren sich, unsere Universitäten kämen ihrem Bildungsauftrag nicht in ausreichendem Maße nach. Doch wieviele Absolventen stehen tatsächlich zur Verfügung? Deutsche Unternehmen beschweren sich, potenzielle Kandidaten seien nicht lernfähig. Sind sie selbst denn bereit, der Arbeitslosigkeit zu begegnen, indem sie Kandidaten durch Förderung binden?

Deutsche Unternehmen beschwe-ren sich, deutsche Arbeitnehmer seien zu teuer. Fehlt es ihnen nicht selbst an Innovationskraft und Attraktivität? Deutsche Unternehmen unterziehen potenzielle Mitarbeiter digitalen Matching-Tests, beispielsweise über Social-Media-Kanäle. Warum wundern sie sich dann über das Ghosting seitens der Bewerber? Deutsche Unternehmen beschweren sich über Menschen, die ihr Leben selbst bestimmen möchten. Übersehen sie, dass sich der Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt entwickelt hat? Deutsche Unternehmen reduzieren den Auswahlprozess auf reine hard facts ohne Erfahrungswerte und Sozialkompetenzen. Warum sind Erfahrungen und Persönlichkeit häufig wertlos und finden in Cluster-Verfahren keine Berücksichtigung?

Die Scheinsuche auf dem Geistermarkt. Die Ausreden lassen an der Ernsthaftigkeit von Auswahlverfahren ebenso Zweifel aufkommen wie an der hochgepriesenen Sozialkompetenz. Regelrechte Knebelverfahren sprechen dem Kandidaten das Misstrauensvotum aus. Man könnte eine gewisse Unfähigkeit oder mangelnden Willen im Umgang mit Kandidaten vermuten, die einem Unternehmen Vertrauen entgegenbringen und ihre Kompetenz anbieten.

Führungsverantwortliche tun sich schwer, Gesprächspartner anhand ihrer Erfahrung sorgfältig auszuwählen. Das ist bitter, angesichts zunehmender psychosozial bedingter Krankenstände, Leistungsverlusten, Unzufriedenheit auf beiden Seiten und damit verbundenen Kosten. Paradoxerweise verursacht neuerdings nicht das vorhandene Personal hohe Kosten, sondern das inzwischen fehlende. Ghosting betreiben heute Jobsuchende, wie es bis vor der Pandemie noch viele Betriebe taten. Viele Bewerber irren umher, auf der Suche nach Sicherheit und Orientierung.

Veränderung ja, verändern nein. Arbeit ist genug vorhanden. Finanzielle Mittel ebenfalls. Suspekt erscheinen Menschen, die in keine Schublade passen. Für sie ist kein Raum. Sie wollen mitreden, mitgestalten. Sie sind in der Lage, Verantwortung zu übernehmen und fordern ein. Beängstigend für ein eher träges Land. Veränderung ja, verändern nein. Lieber erstmal abwarten. Sehenden Auges ins Desaster, mit Wumms sozusagen.

Bleibt festzuhalten: Die typical »German Angst« vieler Betriebe ist so alt wie die Menschheit. Entscheidungen, die getroffen werden, könnten falsch sein. Was für eine Farce in Krisenzeiten. Nicht auszudenken, wie ein Unternehmen dastünde, wenn es tatsächlich innovativ voranginge. Der vermeintliche Spott geht immerhin am Unternehmen vorbei, denn im Nachhinein ist die Sache immer klar: Es handelte sich um einen C-Kandidaten. Alles richtig gemacht, wenn das Wümmschen umherschleicht und das Personal ausbleibt?

Traditionell hören wir, auch wie immer, die gleichen Töne; Na, dann »vielen Dank für die Blumen…«. Immerhin bleibt der Ton im Wesentlichen freundlich.

 


Gabi Claudia Stratmann,
Business-Philosophin,
Gesellschaftstheoretikerin,
Autorin

 

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