Das Wohlstandsdilemma: gesicherte Gegenwart, aber steigende Zukunftsängste

Zum Wohlstand gehört für die Deutschen in erster Linie ein sorgenfreies Leben. Über drei Viertel der Bevölkerung definieren Wohlstand als frei von finanziellen Sorgen sein. Für sieben von zehn gehört ein sicheres Einkommen dazu, ebenso wie für zwei Drittel ein sicherer Arbeitsplatz. Ipsos und Zukunftsforscher Opaschowski legen Bilanz aus fünf Jahren Wohlstandsforschung vor.

 

Der Anteil der Deutschen, die sich selbst nach den Kriterien des NAWI-D als besonders wohlhabend einschätzen, ist seit der ersten Messung 2012 um sieben Prozentpunkte auf 49,1 Prozent gestiegen. Doch vor allem bei finanziellen Aspekten, aber auch bei der Gesundheitsvorsorge gibt es einige Schieflagen zwischen Wohlstandsanspruch und Realität. Insbesondere die Jüngeren erfahren in diesem Sinne Wohlstandsdefizite, während sich Altersarmut im NAWI-D nicht bemerkbar macht. Bei ansonsten über die letzten fünf Jahre relativ konstant steigenden Wohlstandkurven fällt auf, dass die Deutschen dennoch belegbare Zukunftsängste haben, die offenbar von äußeren Faktoren bestimmt werden.

Dies geht aus dem aktuellen Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland (NAWI-D) hervor, den das Markt- und Sozialforschungsinstitut Ipsos in Zusammenarbeit mit Zukunftsforscher Opaschowski seit fünf Jahren kontinuierlich erhebt. Zwischen 2012 und 2017 wurden mittlerweile 40.000 Personen ab 14 Jahren in Deutschland repräsentativ danach befragt, was sie persönlich mit Wohlstand verbinden und wie sie derzeit ihre eigene Lebenslage einschätzen.

Wohlstand wird heute stärker von Wunsch nach Eigentum und Reisen geprägt

Gegenüber 2012 definieren die Deutschen heute den Wohlstand zwar nicht neu, aber doch pointierter. Neben finanzieller Sorgenfreiheit (78 %), sicherem Einkommen (70 %) und gesichertem Arbeitsplatz (65 %) ist ihnen der Besitz von Eigentum (71 %) ebenfalls wichtig und als weiterer Sicherheitsaspekt in den letzten fünf Jahren um ganze 14 Prozentpunkte gestiegen. Vielleicht ist es ein Indiz für schon weitgehend erfüllte Grundbedürfnisse, wenn Wohlstandsaspekte wie sich so gut wie alle »materiellen Wünsche« (67 %) und »alle Reisewünsche erfüllen zu können« (56 %) in den letzten fünf Jahren im zweistelligen Prozentbereich gewachsen sind. Auch eine gute medizinische Versorgung spielt 2017 in der Wohlstandsdefinition mit plus acht Prozentpunkten eine größere Rolle als noch 2012. Die Deutschen wissen die gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sehr wohl zu schätzen. Seine »Meinung frei äußern können« (36 %) wird zwar nicht unter den Top -Werten, aber dennoch von mehr als jedem Dritten (36 %) als gesellschaftlicher Wohlstand bewertet: gewissermaßen als Voraussetzung fürs Wohlbefinden und dafür, das Beste aus dem Leben machen zu können. Deutlich stärker als vor fünf Jahren zählen die Menschen 2017 auch die Chance, »dort zu leben wo man möchte« und »in einem Land leben können ohne Grenzen« zu Faktoren ihres persönlichen Wohlstands. (Grafik 1)

Deutlicher Anstieg des gefühlten Wohlstands gegenüber 2012

Im Gegensatz zu aggregierten Größen wie dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) erfolgt die Berechnung des Wohlstands im NAWI-D aus der Perspektive der Bürger. Damit man sagen kann, dass ein Mensch in Wohlstand lebt, muss eine Reihe an ökonomischen, individuellen, gesellschaftlichen und ökologischen Voraussetzungen erfüllt sein. Dieses umfassende Wohlstandsverständnis der Bevölkerung sprengt den herkömmlichen Wohlstandsbegriff, der sich bisher fast nur in materiell-monetären Bestimmungen erschöpfte. Professor Opaschowski: »Die Deutschen wollen keinen Überfluss, sondern materielle, mentale und soziale Sicherheit.«

Der Anteil der Menschen, die sich auf Grundlage der Kriterien des NAWI-D als besonders wohlhabend einschätzen, ist von 42,1 Prozent im Jahr 2012 auf aktuell 49,1 Prozent deutlich angestiegen. Nur 2015 lag er im Juni und September mit 50,5 und 50,4 Zählern geringfügig darüber.

Mehr Gewinner weniger Verlierer

Knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat somit nach eigener Einschätzung ein recht hohes Wohlstandsniveau erreicht. Das heißt im Gegenzug nicht, dass es der anderen Hälfte subjektiv schlecht geht. Die Verteilung sieht im März 2017 wie folgt aus:

Hohes Wohlstandsniveau: 49,1 %

Mittleres Wohlstandsniveau: 34,9 %

Niedriges Wohlstandsniveau: 16,0 %

Dabei ist der Anteil derjenigen, die sich als nicht wohlhabend sehen, von 20,8 im Jahr 2012 auf aktuell 16,0 Prozent gesunken. Mehr Gewinner, weniger Verlierer: Diese Wohlstandsbilanz deutet darauf hin, dass immer mehr Bürgern eine Wohlstandssteigerung gelingt und andererseits das Risiko für Wohlstandsverluste geringer wird. Soziale Ungleichheiten gibt es weiterhin, das Lager der sozial Ausgegrenzten wird aber kleiner.

Dennoch ist noch Luft nach oben, zwei von sechs Bundesbürgern geht es nach eigener Aussage nicht gerade schlecht, aber es könnte ihnen aber besser gehen. Und einer von sechs befindet sich im Unwohlstand.

Wohlstandsdefizite insbesondere bei ökonomischen Aspekten

Auch wenn der Wohlstand ein hohes Niveau erreicht hat, zeigen sich zwischen dem Wohlstandsverständnis und der Wohlstandswirklichkeit noch erhebliche Defizite. Für mehr als drei Viertel der Deutschen bedeutet Wohlstand ein Leben ohne finanzielle Sorgen (77 %), doch für weniger als die Hälfte (42 %) ist dies auch Realität. Einen erheblichen Nachholbedarf meldet die Bevölkerung auch bei der finanziellen Zukunftsvorsorge (-20 Prozentpunkte), dem sicheren Einkommen (-16) und dem gesicherten Arbeitsplatz/ der gesicherten Rente (-11) an. Defizitär empfinden die Menschen ebenso die medizinische Versorgung. Gerade mal die Hälfte der Deutschen gibt an, sich eine voll zufriedenstellende medizinische Versorgung leisten zu können.

Junge Deutsche mit Wohlstanddefiziten

In der Werbung gern als auf der Sonnenseite des Lebens stehend dargestellt, haben junge Deutsche bezüglich ihres Wohlstands das Nachsehen. Zwar ist ihre Definition von Wohlstand, ebenso wie die des Bevölkerungsdurchschnitts, bei den 14-bis 24-Jährigen von Sicherheitsaspekten geprägt. Gerade in diesen Bereichen empfinden die Jungen jedoch deutliche Defizite, die überwiegend ihrem Alter geschuldet sind. So haben sie mehrheitlich keinen sicheren Arbeitsplatz und damit auch kein gesichertes Einkommen und besitzen weniger Eigentum als der Durchschnitt der Deutschen. Nur 33 Prozent dieser Gruppe behaupten von sich, keine finanziellen Sorgen zu haben, entsprechend können sie auch eher nicht im voll zufriedenstellendem Ausmaß für ihre Zukunft vorsorgen und sich auch nicht alle materiellen Wünsche erfüllen. Auch hat diese Gruppe weniger Zeit für sich und lebt weniger mit der Natur. Die einzigen drei Bereiche, in denen sie punkten können, reichen nicht, um die Gesamtbilanz zu schönen: sie kommen mehr mit Menschen aus anderen Kulturen zusammen, haben eine Beschäftigung, die Sinn macht, und fühlen sich gesünder als der Durchschnitt der Deutschen.

Kaum eine Spur von Altersarmut

Altersarmut scheint dagegen, anders als in vielen Berichten, kein zu verallgemeinerndes Thema der Gegenwart zu sein. Der NAWI-D macht deutlich, dass es den Älteren nach deren subjektivem Empfinden generell gut geht. Nur 15 Prozent der älteren Bevölkerung ab 65 Jahren stufen sich auf der unteren Wohlstandsskala ein, mehr als dreimal so viele (51 %) dagegen ganz oben. Sie (erreichen damit ein ähnliches Wohlstandsniveau wie 35-bis 64-Jährigen.

Die Generation 65plus genießt derzeit am meisten die Segnungen und neuen Freiheiten des Wohlstandslebens in Deutschland. Nicht nur, dass sie als Rentner und Pensionäre mehr Zeit für sich haben und mehr machen können, was sie wollen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Auch in anderen Bereichen ist diese Generation im Vorteil. Sie hat eine sichere Rente, hat für die Zukunft vorgesorgt und kann finanziell sorgenfrei leben. Darüber hinaus leben die Senioren umweltbewusst und mehr in Frieden mit ihren Mitmenschen.

Andererseits haben die Alten weniger soziale Kontakte und fühlen sich deutlich weniger gesund. Letzteres ist ein Tribut, den sie für ihre hohe Lebenserwartung zahlen müssen.

Stabiler Wohlstand, aber die Zukunftsangst fährt Achterbahn

Die Entwicklung des NAWI-D seit 2012 zeigt, dass es den Deutschen subjektiv immer besser geht. Der Anteil derjenigen, die sich glücklich fühlen, steigt seit 2012 konstant. Dennoch können heute nur 42 Prozent mit Bestimmtheit sagen, dass sie keine Angst vor der Zukunft haben. Dieser Wert zeichnet im Zeitverlauf eine bemerkenswerte Achterbahnfahrt und bewegt sich, anders als die anderen Wohlstandsindikatoren, kaum parallel zur Kurve des Gesamt-NAWI-D. Zukunftsangst scheint mehr als andere Indikatoren durch äußere Einwirkungen beeinflussbar zu sein – die Zustimmung zur Aussage »habe keine Angst vor der Zukunft« sinkt beispielsweise im Dezember 2015, nach den Anschlägen von Paris und auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015, rapide ab, erholt sich aber schnell. Ebenso wie Mitte 2013 auf einem neuen Höhepunkt der Eurokrise. (Grafik 2)

Es sind eher keine ökonomischen Gründe, die wieder Zukunftsängste aufkommen lassen. Vielmehr fürchten vermutlich viele Bürger, dass Faktoren wie Freiheit oder friedliches Zusammenleben nicht als selbstverständlich gesichert für ihre Zukunft gelten.

Folgerungen für Politik und Gesellschaft

Zukunftsforscher Opaschowski fordert mehr Zukunftsvorsorge in Politik und Gesellschaft. »Der Wohlstand steigt, das Gefühl der Bevölkerung, weiterhin gut leben zu können, aber nicht im gleichen Maß. Die Bürger sind mit ihrem erreichten Wohlstandsniveau durchaus zufrieden, sind sich aber ihrer Zukunft nicht mehr sicher. In unsicheren Zeiten wünscht sich die Bevölkerung von Politik und Gesellschaft einen schützenden Sicherheitsrahmen – vom sicheren Arbeitsplatz über den sozialen Frieden im Land bis zur verlässlichen Gesundheits- und Altersvorsorge. Erwartet werden beruhigende Antworten auf die Frage, wohin es geht. Dann sind sie auch in der Lage, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen«.

Hans-Peter Drews, Leiter der Studie bei Ipsos Observer, sieht den NAWI-D als verlässliche Entscheidungshilfe für die Politik. »Nach mehr als fünf Jahren kontinuierlicher Ipsos-Forschung ist klar, was die Menschen in Deutschland unter Wohlstand und gutem Leben verstehen und wie sie ihre eigene Lebenslage derzeit einschätzen. Gesellschaftliche, individuelle und ökonomische Aspekte des Wohlstands haben sich größtenteils verbessert, es ist aber immer noch Luft nach oben. Neben den Bürgern selbst muss auch die Politik Verantwortung übernehmen. So können Investitionen in Bildung speziell bei den Jüngeren für mehr Sicherheit für Beschäftigung und Einkommen sorgen. Sie könnten dadurch beim Wohlstand aufholen. Und die Politik muss entschlossenen handeln bei Themen wie innere und äußere Sicherheit aufzeigen. Nur dann kommt Lebensqualität bei den Bürgern an und macht ‚nachhaltiges gutes Leben‘ in Deutschland möglich.«

Der NAWI-D ermöglicht dank der Anlage der Studie und der mittlerweile angesammelten Datenfülle nicht nur eine Betrachtung unterschiedlicher Faktoren, die Einfluss auf den Wohlstand der Deutschen haben. Er ist auch prädestiniert für detaillierte Zielgruppenanalysen. Ipsos Observer kann alle Ergebnisse des NAWI-D nach Merkmalen wie Alter, Region, Einkommen oder Bildung aufschlüsseln. Somit kann der NAWI-D der Politik detaillierte Erkenntnisse liefern und zudem den Effekt möglicher sozialpolitischer Änderungen aufzeichnen.

 

Studiensteckbrief
Methode:    
Ipsos Capibus Computer Assisted Personal Interviewing, im Haushalt des Befragten random route – zufällig ausgewählter Haushalt und Befragungsperson
Stichprobe: 40.000 Personen ab 14 Jahren
Grundgesamtheit:  Deutschsprechende Bevölkerung in Privathaushalten
Feldzeit:      Juni 2012 bis März 2017
   
Berechnung der Wohlstandswirklichkeit im Ipsos NAWI-D
Über bevölkerungsrepräsentative Vorbefragungen wurde eine Batterie von 30 Aussagen entwickelt, die das Thema Wohlstand aus Sicht der erwachsenen Wohnbevölkerung in Deutschland umfassend abdeckt. Diese 30 Aussagen wurden in einer wiederum bevölkerungsrepräsentativen Umfrage mittlerweile 40.000 Bundesbürgern ab 14 Jahren vorgelegt. Die Einstufung seitens der Befragten erfolgte anhand einer 10er-Skala, die von 1 = »trifft auf mich überhaupt nicht zu« bis 10 = »trifft auf mich voll und ganz zu« reicht.
Sofern nicht anders aufgeführt, wird im Text auf die sogenannten Top 3 – Werte beziehungsweise deren Komplementärgröße zurückgriffen. Der Top 3 – Wert zu einer Aussage enthält somit die Skalenwerte 8, 9 und 10. Dann wird die Aussage für den Befragten als ausreichend erfüllt angesehen. Bei den Werten 1 – 7 wird sie als nicht ausreichend erfüllt angesehen.
Bei der Berechnung des NAWI-D wird für jede Aussage die gemessene Wohlstandswirklichkeit mit deren jeweiligen Bedeutung in Bezug gesetzt, d. h. gewichtet. Daraus werden für jede Wohlstandsdimension als auch für den Wohlstand insgesamt der NAWI-D berechnet.
Über Prof. Dr. Horst Opaschowski
Professor Opaschowski ist Zukunftswissenschaftler und Berater für Politik und Wirtschaft. Nach dem Studium in Bonn und Köln promovierte er 1968 über die sozialen Folgen der Tourismusentwicklung. 1973 entwickelte er im Auftrag der Bundesregierung eine freizeitpolitische Konzeption. Von 1975 bis 2006 war er Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. 1979 gründete er das BAT Freizeit-Forschungsinstitut, das 2007 in die Stiftung für Zukunftsfragen umgewandelt wurde, deren Wissenschaftlicher Leiter Opaschowski bis Ende 2010 war. Gemeinsam mit seiner Tochter Irina Pilawa gründete er 2014 das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung.

 


 

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