Die Löhne der Geringverdienenden bleiben seit der Finanzkrise nicht mehr zurück

Nur mittlere Löhne wachsen zuletzt unterdurchschnittlich

Die realen Bruttostundenlöhne der Beschäftigten in Deutschland sind für die unteren 40 Prozent der Lohnverteilung seit 1995 real gefallen, für die oberen 50 Prozent dagegen gestiegen. Nach der Finanzkrise haben die Stundenlöhne auch für die Geringverdienenden real zugenommen, so dass die Lohnentwicklung weniger ungleich war als in den Jahren zuvor.

»Auffallend ist«, so DIW-Forschungsdirektor Alexander Kritikos, »dass nach 2010 die Lohnsteigerungen in den mittleren Lohngruppen unterdurchschnittlich ausfallen.« Am besten schnitten sowohl in der kurzen wie auch in der längeren Frist die Beschäftigten am oberen Ende der Lohnskala ab. Dies sind die zentralen Ergebnisse einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) auf Grundlage von Daten der Längsschnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP).

In den Jahren vor der Finanzkrise hatte sich die Schere zwischen den niedrigsten und den höchsten Bruttostundenlöhnen, also die auf dem Arbeitsmarkt erzielten Löhne vor Umverteilung über Steuern und Transferleistungen, geöffnet. »Der Trend einer zunehmenden Lohnspreizung ist bei den Stundenverdiensten offenbar um das Jahr 2010 herum zum Stillstand gekommen«, sagt DIW-Arbeitsmarktexperte Karl Brenke. Schon einige Jahre zuvor ist auch der Anteil derjenigen Beschäftigten nicht mehr gewachsen, die zum Niedriglohnsektor zählen, obwohl die Größe des Niedriglohnbereichs nach wie vor in Deutschland auf einem Höchststand ist.

Einem Teil der Geringverdienenden gelingt es, über die Zeit höhere Stundenlöhne zu erzielen. »So gehörte von denjenigen 20 Prozent der Arbeitskräfte des Jahres 2010 mit den geringsten Stundenlöhnen fünf Jahre später die Hälfte nicht mehr zum unteren Segment der Lohnverteilung – sofern sie in einer Beschäftigung blieben. »Aber man darf dabei auch nicht vergessen, dass dann andere Menschen an ihre Stelle treten und entsprechend geringe Löhne erhalten«, sagt Kritikos.

 

Mindestlohn spielt eine Rolle, ist aber nicht der einzige Grund für den Anstieg der Niedriglöhne

Die Ursachen für den Anstieg der niedrigen Löhne sind vielfältig. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 hat die Löhne in den untersten Lohngruppen in jenem Jahr kräftig angeschoben. Lohnerhöhungen bei den BezieherInnen geringer Stundenverdienste waren allerdings schon vor Einführung des Mindestlohns zu beobachten. Die Autoren der Studie sehen die Ursachen auch in Strukturverschiebungen am Arbeitsmarkt. Von 2010 bis 2015 hat sich die Zusammensetzung der Gruppe der Geringentlohnten in mancherlei Hinsicht verändert. So befinden sich unter ihnen jetzt mehr Beschäftigte in Westdeutschland und weniger in Ostdeutschland. Außerdem macht sich eine offensivere Lohnpolitik mancher Gewerkschaften bemerkbar, zu der auch vermehrte Vereinbarungen über Branchentarifverträge zählen.

 

Höher qualifizierte Tätigkeiten gewinnen immer mehr an Bedeutung

Einen erheblichen Strukturwandel hat es auch bei den Qualifikationen gegeben. Der Bedarf an Hochqualifizierten mit einem Hochschulabschluss steigt kontinuierlich. Gleichzeitig sinkt der Bedarf an Arbeitskräften mit geringer Qualifikation. »Insofern ist die Entwicklung der letzten fünf Jahre keine Selbstverständlichkeit, denn eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass die Lohnschere weiter auseinandergeht«, sagt Karl Brenke. Die beiden Autoren verweisen auch auf die insgesamt schwache Lohnentwicklung in den letzten 20 Jahren. »Vor diesem Hintergrund sollte man stärker auf die unterschiedliche Entwicklung zwischen Lohneinkünften auf der einen und Einkommen aus Kapital auf der anderen Seite achten.«

 

Stichwort SOEP:

Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist die größte und am längsten laufende multidisziplinäre Langzeitstudie in Deutschland. Das SOEP im DIW Berlin ist Teil der Forschungsinfrastruktur in Deutschland und wird unter dem Dach der Leibniz-Gemeinschaft (WGL) vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Ländern gefördert. Für das SOEP werden seit 1984 jedes Jahr vom Umfrageinstitut Kantar Public mehrere tausend Haushaltsmitglieder befragt. Zurzeit sind es etwa 30.000 Befragte in etwa 15.000 Haushalten. Weil jedes Jahr vom Ansatz her dieselben Personen befragt werden, können nicht nur langfristige gesellschaftliche Trends, sondern auch die gruppenspezifische Entwicklung von Lebensläufen besonders gut analysiert werden.

 

Interview mit Alexander Kritikos: »Seit 2010 legen die unteren und die oberen Dezile bei den Löhnen nicht mehr zu« (Print | PDF, 104.5 KB und Audio) | MP3, 4.84 MB)

 


Arbeits- und Kapitaleinkommen: Lohnquote weitgehend stabil

In der Debatte um ein Auseinanderdriften von Arm und Reich ist in letzter Zeit auch immer wieder eine These aufgekommen: Arbeitseinkommen würden im Vergleich zu Kapitaleinkommen zunehmend an Bedeutung verlieren. Eine Studie des IW Köln kommt zu einem anderen Ergebnis. Der Anteil am Gesamteinkommen, den Arbeitnehmer erwirtschaften, ist in Deutschland weitgehend stabil.

Häufig wird behauptet, dass Kapitalerträge heute in Industriestaaten stärker steigen als Arbeitseinkünfte. Der Anteil der Löhne am volkswirtschaftlichen Gesamteinkommen – die sogenannte Lohnquote – würde demnach sinken. Doch einen eindeutigen Trend in dieser Hinsicht gibt es nicht, wie das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) in einer Studie zeigt: In Deutschland lag die Lohnquote im Jahr 2016 mit 68,1 Prozent auf einem ähnlichen Niveau wie vor 25 Jahren. 1991 betrug sie 68,6 Prozent.

Der aktuelle Wert liegt zwar etwas unter dem Durchschnitt der 1990er Jahre. Nach einem kurzen Einbruch zu Beginn des neuen Jahrtausends hat sich die Quote zuletzt aber wieder deutlich erhöht. Nach wie vor erwirtschaften Arbeitnehmer mit ihren Löhnen also mehr als zwei Drittel des deutschen Gesamteinkommens. Knapp ein Drittel setzt sich aus Kapitaleinkünften wie Unternehmensgewinnen, Dividenden und Zinsen zusammen. Diese fließen zum großen Teil ebenfalls den Arbeitnehmern zu.

Auch in anderen OECD-Staaten stellt die IW-Studie keine einheitliche Verschiebung der Einkommensverteilung in Richtung des Kapitals fest. Zwar ging die Lohnquote in fünf der 18 untersuchten Länder in den vergangenen 25 Jahren zeitweise merklich zurück. In anderen Ländern stieg sie dafür deutlich – zum Beispiel in Frankreich, der Schweiz und im Vereinigten Königreich.

Die These einer allgemein zunehmenden Ungleichheit durch eine sinkende Lohnquote, wie sie etwa der französische Ökonom Thomas Piketty vertritt, ist demnach nicht haltbar. »Von einem generellen Bedeutungsverlust der Arbeitseinkommen kann keine Rede sein«, sagt IW-Konjunkturexperte Michael Grömling.

Zur Studie und weiteren Materialien https://www.iwkoeln.de/studien/iw-trends/beitrag/michael-groemling-entwicklung-der-makrooekonomischen-einkommensverteilung-in-deutschland-329807

 


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