Arbeitslosigkeit: Pessimistische Europäer

Die Arbeitslosigkeit wird in Europa länderübergreifend deutlich überschätzt, zeigt eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Je höher die Bürger Arbeitslosigkeit überschätzen, desto mehr misstrauen sie der Demokratie, ihren Mitmenschen und politischen Institutionen wie der EU – und desto eher sympathisieren sie mit rechtspopulistischen Parteien.

 

Länderübergreifend überschätzen viele Bürger der EU-Staaten die jeweilige nationale Arbeitslosenquote, zeigt eine neue IW-Studie. Rund 40 Prozent der Deutschen gingen demnach 2016 davon aus, dass jeder fünfte Deutsche im erwerbsfähigen Alter arbeitslos ist. Tatsächlich betrug die Arbeitslosenquote hierzulande nach Definition der Internationalen Arbeitsorganisation zum Zeitpunkt der Befragung gerade einmal 4,2 Prozent. Portugiesen vermuten sogar eine Arbeitslosigkeit von über 31 Prozent, tatsächlich lag sie in Portugal im Befragungsjahr bei rund neun Prozent. Zudem entwickeln sich in den meisten europäischen Ländern Wahrnehmung und Tatsachen gegensätzlich: Positive Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt werden im Durchschnitt zu wenig positiv wahrgenommen, negative Entwicklungen zu negativ.

https://www.iwkoeln.de/studien/iw-trends/beitrag/matthias-diermeier-judith-niehues-unwissen-befoerdert-systemisches-misstrauen-427635.html

 

Pessimisten sind häufiger für EU-Austritt

Solche pessimistischen Einschätzungen befördern systemisches Misstrauen, zeigt die IW-Studie. Je stärker die Befragten Arbeitslosigkeit überschätzen, desto weniger vertrauen sie dem politischen System, der Demokratie, ihren Mitmenschen und Institutionen wie der EU. Pessimistische Bürger geben bei Wahlen seltener ihre Stimme ab, sprechen sich häufiger für einen EU-Austritt aus und sind, wenn sie überhaupt wählen, eher rechtspopulistischen Parteien zugeneigt.

 

Nährboden für Populismus

Eine realistische Einschätzung der Arbeitsmarktentwicklung könnte dementsprechend das Vertrauen in Politik und Demokratie stärken. »Liberale Demokratien können nur funktionieren, wenn auch wirtschaftliche Kompetenzen gefördert werden«, sagt Studienautor Matthias Diermeier. Gerade in Zeiten von Fake News und polarisiertem öffentlichem Diskurs fehlt oft eine ausgeglichene Argumentation. »Gesellschaftliche Missstände müssen selbstverständlich identifiziert und klar benannt werden«, sagt Studienautorin Judith Niehues. »Übermäßig negative Darstellungen bilden jedoch einen Nährboden für Populismus.«

Matthias Diermeier, Judith Niehues

 


 

Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit: Menschen schätzen soziale Realitäten häufig falsch ein

Dass die eigene Wahrnehmung oftmals nicht mit der Realität übereinstimmt, belegt einmal mehr die aktuelle Studie »Perils of Perception« des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos [1]. In 37 Ländern schätzten knapp 30.000 Personen aktuelle Zahlen zur Bevölkerungsstruktur und gesellschaftsrelevanten Themen. Auch hierzulande werden viele soziale Realitäten von den Bürgern vollkommen falsch eingeschätzt. Verglichen mit anderen Ländern irren sich die Deutschen sogar überdurchschnittlich oft.

 

 

Migrantenanteil in Deutschland zu hoch geschätzt

Der Anteil von Einwanderern an der Gesamtbevölkerung wird in Deutschland deutlich zu hoch eingeschätzt. Während der tatsächliche Wert 15 Prozent beträgt, liegt die durchschnittliche Schätzung der Befragten doppelt so hoch (30 %). In einigen anderen Ländern ist die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und realen Zahlen in Sachen Migration sogar noch extremer, insbesondere in Lateinamerika. Ein Extrembeispiel: Obwohl Kolumbien laut offizieller Statistik eine Einwandererquote von lediglich 0,3 Prozent hat, wird dennoch vermutet, dass mehr als jeder dritte Einwohner Kolumbiens (34 %) Migrant ist. Ähnlich gravierende Fehlwahrnehmungen zeigen sich in Peru, Brasilien, Argentinien und Chile.

 

Anteil an Muslimen stark überschätzt

Während sich also die Schätzungsfehler der Deutschen bei nicht weiter spezifizierten Einwanderern noch verhältnismäßig in Grenzen halten, sieht es bei Menschen muslimischen Glaubens schon anders aus. In der Wahrnehmung der Befragten ist jeder fünfte Bundesbürger (21 %) Muslim. Der tatsächliche Anteil an Muslimen an der Gesamtbevölkerung entspricht mit lediglich 4 Prozent nicht einmal einem Fünftel des Schätzwertes. Nur in 7 von insgesamt 37 untersuchten Ländern irren sich die Menschen in dieser Frage noch stärker.

 

Deutsche glauben jeder Fünfte ist arbeitslos

Selbst ein in der Öffentlichkeit verhältnismäßig breit diskutiertes Thema wie die Arbeitslosenquote wird hierzulande fünf Mal zu hoch eingeschätzt. Schenkt man den Schätzungen der Befragten Glauben, so würde sich aktuell jeder fünfte Deutsche im erwerbsfähigen Alter (20 %) auf der Suche nach Arbeit befinden. In Wahrheit ist derzeit nicht einmal jeder zwanzigste Bundesbürger (4 %) arbeitslos. Mit einer Diskrepanz von 16 Prozentpunkten schneiden wir im internationalen Vergleich sogar recht gut ab. In Mexiko (47 %), Brasilien (47 %) und Peru (46 %) ist die Differenz deutlich gravierender.

 

Einschätzung der Wirtschaftslage nur knapp daneben

Deutlich optimistischer wird die die hiesige Wirtschaftskraft gesehen. Deutschland wird im Durchschnitt auf Position 9 unter den 200 größten Volkswirtschaften der Welt (nach BIP) eingestuft. Tatsächlich hat die Bundesrepublik aber sogar das viert größte Bruttoinlandsprodukt der Welt. Mit einer Differenz von nur 5 Positionen ist die Einschätzung der Deutschen allerdings vergleichsweise akkurat. Weltweit verschätzen sich die Befragten um durchschnittlich 42 Positionen, in Argentinien sogar um sage und schreibe 129 Positionen.

 

Anteil erneuerbarer Energien wird unterschätzt

Ähnlich realistisch schätzt die Bevölkerung den Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch Deutschlands ein. Im Durchschnitt wird vermutet, dass hierzulande knapp ein Drittel des Energiebedarfs (29 %) aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. In Wirklichkeit liegt der Prozentsatz mit 36 Prozent sogar noch etwas höher. Während die Deutschen die Dinge also erneut negativer sehen als sie tatsächlich sind, wird in den meisten anderen Ländern der Anteil erneuerbarer Energien tendenziell eher überschätzt.

 

Sexuelle Potenz junger Menschen wird drastisch überschätzt

Bei der Einschätzung des Sexualverhaltens junger Erwachsener, liegen die Befragten in ausnahmslos allen untersuchten Ländern komplett daneben. Hierzulande wird vermutet, dass Frauen und Männer im Alter zwischen 18 und 29 Jahren durchschnittlich 16 Mal in vier Wochen Sex haben. Die tatsächliche Häufigkeit liegt mit fünf Mal in vier Wochen weit unter dem Schätzwert. Global gesehen ist die Kluft zwischen subjektiver Wahrnehmung und realen Zahlen sogar noch etwas größer.

 

Selbst Frauen unterschätzen das Ausmaß sexueller Belästigung

In Deutschland wird das Ausmaß sexueller Belästigung von Frauen massiv unterschätzt. Sechs von zehn deutschen Frauen (60 %) geben an, seit ihrem 15. Lebensjahr bereits irgendeine Form von sexueller Belästigung erfahren zu haben. Die Einschätzungen der Studienteilnehmer liegen deutlich unter diesem Wert (37 %). Selbst die weiblichen Befragten (40 %) unterschätzten das tatsächliche Ausmaß.

 

Deutsche im unteren Drittel des »Irrtumsindex«

Berücksichtigt man alle Fragestellungen der Studie, so verschätzten sich die Deutschen deutlich häufiger als die Bürger vieler anderer Nationen. Unter den insgesamt 37 abgefragten Ländern belegt Deutschland lediglich den 24. Platz, wenn es um die beste Schätzung geht. Der Wirklichkeit am nächsten kamen die Befragten aus Hongkong, Neuseeland und Schweden, der unrühmliche Preis für die Bevölkerung mit der am wenigsten zutreffenden Wahrnehmung geht an Thailand, dicht gefolgt von Mexiko und der Türkei.

 

Dr. Robert Grimm, Director Ipsos Public Affairs, deutet die Studiendaten nicht zuletzt als Folge zunehmend polarisierender öffentlicher Debatten: »Gerade bei den politisch brisanten Themen wie Migration und Muslime in Deutschland liegen Wahrnehmung und Realität weit auseinander. Diese Themen werden häufig in den Medien und in der Politik diskutiert. Die Diskurse sind dabei überwiegend negativ konstruiert, es wird polarisierend und emotional über Kontrolle, Kriminalität und Betrug debattiert. In der menschlichen Wahrnehmung verstärken sich damit soziale Phänomene zu überdimensionalen Problemen mit dringendem politischen Handlungsbedarf.

 

Dass wir die Zahl sexueller Belästigungen so stark unterschätzen ist ein Indikator der weiterhin mangelnden Aufmerksamkeit für dieses Problem in unserer Gesellschaft. Einerseits assoziieren wir sexuelle Belästigung überwiegend mit Frauen. Frauen haben es noch immer schwer, gegen verbliebene gesellschaftliche Strukturen anzuschwimmen und frauenspezifische Themen werden oftmals nur geschwächt oder bagatellisiert in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Andererseits ist die Unterschätzung sexueller Belästigungen bestimmt auch ein Ausdruck über die Unsicherheit darüber, was diese eigentlich konstituiert (besonders auf Seiten der Männer).«

[1] Methode: Die Ergebnisse stammen aus der Ipsos MORI »Perils of Perception 2018«-Studie, die über das Ipsos Online Panel System durchgeführt wurde. Die Befragung wurde vom 28. September bis zum 16. Oktober 2018 unter 28.115 Personen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren in insgesamt 37 Ländern durchgeführt: Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Chile, China, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Hongkong, Indien, Italien, Japan, Kanada, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Montenegro, Neuseeland, Niederlande, Peru, Polen, Rumänien, Russland, Saudi-Arabien, Schweden, Schweiz, Serbien, Singapur, Spanien, Südafrika, Südkorea, Thailand, Türkei, Ungarn und USA. In Montenegro und Serbien wurden zusätzlich zur Online-Befragung auch Face-to-Face-Interviews durchgeführt.
Es wurde eine Gewichtung der Daten vorgenommen, um die demografischen Merkmale auszugleichen und damit sicherzustellen, dass die Stichprobe die aktuellen offiziellen Strukturdaten der erwachsenen Bevölkerung eines jeden Landes widerspiegelt. In 21 der 37 untersuchten Ländern ist die Internetdichte groß genug, um die Stichproben als repräsentativ für die nationale Bevölkerung anzusehen: Argentinien, Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Hongkong, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Polen, Schweden, Schweiz, Singapur, Spanien, Südkorea, Ungarn und USA.
Brasilien, Chile, China, Indien, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Peru, Rumänien, Russland, Saudi Arabien, Serbien, Südafrika, Thailand und die Türkei haben eine niedrigere Internetdichte; diese Stichproben sollten nicht als bevölkerungsrepräsentativ angesehen werden. Sie repräsentieren stattdessen den wohlhabenderen Teil der Bevölkerung, die aufstrebende Mittelklasse. Diese stellt allerdings eine wesentliche soziale Gruppe dar, wenn es darum geht, diese Länder verstehen zu lernen.
Die ›tatsächlichen‹ Daten wurden aus einer Vielzahl von verifizierten Quellen für jede Frage und jedes Land entnommen – eine vollständige Liste der Quellen beziehungsweise Links zu den amtlichen Statistiken finden Sie weiter unten als Download.

Im »Perils of Perception« Quiz können Sie Ihre eigene Wahrnehmung testen.

 

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