Big Data für das Gesundheitswesen – Hürden und Chancen

Illustration Geralt Absmeier

Mal abgesehen von Social Media und Handel mit Konsumgütern ist das Gesundheitswesen wohl eine der unerschöpflichsten Datenquellen überhaupt. Solange Menschen gesund oder gesünder werden möchten, sprudeln Daten ohne Ende. Da liegt es nahe, über die Nutzung der Daten nachzudenken.

Da sind wir auch schon bei der ersten Hürde. Die Daten, ob Radiologie oder Labor oder Bett, gehören dem Patienten und allein dem Patienten. Nach dem derzeitigen Konsens und Vorschriften ist es nicht erlaubt oder nicht möglich, die Patientendaten zu nutzen, es sei denn, es liegt eine ausdrückliche Einverständniserklärung des Patienten vor – und dies praktischerweise für jede einzelne Nutzungsart. Da heißt, wenn beim Verdacht auf eine Erkrankung eine Gewebeprobe entnommen wird, hat der Patient das Recht, dem Eingriff selbst, der Auswertung der Daten im Zusammenhang mit der Diagnose und der Verwendung der Daten über den konkreten Eingriff hinaus zuzustimmen. Das sind drei Unterschriften, die auch entsprechend eingeholt und verwaltet werden müssen. Ohne die dritte Unterschrift kein Krebsregister, kein Machine Learning für die automatisierte Auswertung von Daten aus diagnostischen Systemen, keine Therapieempfehlung anhand von Daten anderer Patienten, rien, nada, niente.

Damit fallen die typischen Big-Data-Szenarien, die uns in den letzten Jahren von verschiedenen Anbietern präsentiert worden sind, wie Kartenhäuser in sich zusammen. Dabei ist es gerade im Gesundheitswesen die Masse an Daten, die zu neuen Erkenntnissen führen kann.

Für das Gesundheitswesen gelten spezielle Mechanismen

Die Szenarien indes klingen großartig: Ein Computer wertet hunderte von MRT- oder Röntgenbildern aus und sortiert schon einmal die Bilder ohne Befund aus. Damit kann der Computer dem Radiologen eine Menge langweiliger Routine abnehmen und der Mediziner seine Fähigkeiten auf die wirklich auffälligen Bilder lenken. Natürlich müssten dazu Millionen Bilder mit KI-Verfahren verarbeitet werden, um den Computer anzulernen. Der Algorithmus sieht nur Pixel. Erst, indem ein Fachmann (und hier genügt es nicht, eine Schar prekär beschäftigter Click Worker über die Bilder gucken zu lassen) bei abertausenden von Bildern eine auffällige Häufung dunkler (oder heller) Pixel an der gleichen Stelle der gleichartigen Aufnahmen als »verdächtig« markiert, kann eine Maschine lernen. Es müssen sehr hoch qualifizierte Radiologen sein, die die Systeme anlernen. Selbstverständlich kann man das auch mit einer Herde »well-trained monkeys« machen, doch wäre dann im praktischen Einsatz entweder die Zahl der False Positive so nervtötend hoch, dass der Patient möglicherweise während der Nachprüfung dahinscheidet.

Das heißt, erfolgreiche Mechanismen aus anderen Märkten sind nicht eins zu eins auf das Gesundheitswesen übertragbar, auch wenn es attraktiv zu sein scheint, auch wenn es Forschungsprojekte gibt. Dies gibt bezogen auf Big-Data-Mechanismen auch ungeachtet von wissenschaftlichen Hürden zu denken. Die Hilfe bei der textlichen Befundung stößt an ähnliche Grenzen. Es gibt durchaus brauchbare Diktiersysteme, doch die automatisierte Erstellung oder auch Vereinheitlichung von sprachlichen Befunden dürfte noch eine Weile Zukunftsmusik bleiben oder auch niemals wirklich kommen. Doch es gibt auch chancenreichere Ansätze. Wo sind also die Lösungsansätze zu suchen?

Mögliche Lösungsansätze

Eine der wirtschaftlichen Herausforderungen im Gesundheitswesen ist die Verweildauer der Patienten. Hier können Algorithmen der Krankenhausleitung durchaus helfen, mit Analysen historischer Daten die Auslastung zu verbessern.

Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) ist ein Thema, dem sich Pharma-Unternehmen und Dienstleister bereits ausführlich widmen. Zunächst geht es darum, möglichst viele Quellen, auch Apotheker und niedergelassene Ärzte, »anzuzapfen« und deren Wissen über Medikamente zusammenzuführen. So entstehen schon beachtliche Datenbanken, die vor allem durch natürlich-sprachliche Kommentare ein Ziel für Analytics und KI-Methoden werden. Das Ziel solcher Analysen ist es, dem Arzt bei der Verordnung eines Medikaments ein komfortables Werkzeug zum Zeigen von Nebenwirkungen und Kontraindikationen an die Hand zu geben. Mal abgesehen davon, dass die Ärzte dieses Werkzeug benutzen wollen und bezahlen können müssen, sind hier offene Standards zu definieren.

Eine weitere Chance für Digitalisierungs- und Analytics-Szenarien liegt zunächst in der Veränderung der Rahmenbedingungen. Dadurch kann die Zustimmung der Patienten erreicht werden. Das bedarf in gewisser Weise auch einer Erziehung der Patienten, vor allem aber der Incentivierung der Patienten: »Wir bezahlen die Hälfte vom Einzelzimmeraufschlag, wenn wir Deine Daten nutzen dürfen.« Eine direkte Vergütung der Nutzung von Daten, die einer Privatperson gehören, ist auch Bestandteil der Bitkom-Leitlinien für Big-Data-Ethik. Das »Wir« sind im diesem Falle alle, die ihr Geschäftsmodell durch die Analyse von Daten verbessern können, also beispielsweise Pharma-Unternehmen und profitorientierte Forschungseinrichtung.

Die Entwicklung von offenen Daten-Pools für alle Stakeholder bietet einen weiteren Lösungsansatz, beispielsweise im AMTS-Umfeld: Wer eine bestimmte Datenmenge »einzahlt«, darf eine bestimmte Datenmenge entnehmen. Im Bereich Industrie 4.0 gibt es ähnliche Konzepte.

Fazit

Das Fazit fällt also ernüchternd aus: Viele Anwendungsszenarien für Analytics und Digitalisierung im Gesundheitswesen sind noch lange nicht alltagstauglich. Manche Use Cases müssen sehr genau hinterfragt werden. Die legalen Szenarien benötigen noch einige Jahre, bis sie in den Praxis- oder Krankenhaus-Alltag vorgedrungen sind. Forschungsszenarien funktionieren, müssen aber noch einen gewaltigen Schritt in Richtung Alltagstauglichkeit vollführen. Doch – wie eingangs erwähnt – fallen in kaum einem Lebensbereich so viele Daten an wie im Gesundheitswesen, und es gilt, auf der Basis dieser Daten nützliche und ethisch vertretbare Anwendungen zu entwickeln, die nicht einfach nur einen schnellen ROI zum Ziel haben.

Holm Landrock, Experton-Group, www.experton-group.de

 

Bottom Line (ICT-Anwenderunternehmen):

Ein Spaziergang über die conhIT, die Fachmesse für IT im Gesundheitswesen Ende April in Berlin, brachte viele neue Erkenntnisse und Ansichten über die verschiedenen Marketing-Strategien der Anbieter. Da geht es um die 360-Grad-Sicht auf den Kunden, Arzneimitteltherapiesicherheit, Diagnosen und die ganzheitliche Customer Journey, nun ja.

Bottom Line (ICT-Anbieterunternehmen):

IT-Leiter von Krankenhäusern, ärztliche Leiter und niedergelassene Ärzte werden gegenwärtig von vielen Seiten mit Big-Data- und Digitalisierungs-Technologien befeuert. Manches kann funktionieren, manches nicht und einiges ist schlichtweg nicht erlaubt. Gegenwärtig sind bodenständige Szenarien bei den Anwendern beliebter als großspurige Visionen.

 


 

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