Der IT-Fachkräftemangel spitzt sich immer mehr zu – eine aktuelle Studie des Branchenverbands Bitkom unterfüttert diese Befürchtung mit besorgniserregenden Zahlen: Im Jahr 2019 waren in Deutschland insgesamt 124.000 IT-Jobs auf Experten-Niveau unbesetzt. Im Vergleich zu den 2018er-Zahlen (82.000 offene Vakanzen) bedeutet dies eine Zunahme von 51 Prozent! Wie lässt sich endlich effektiv gegensteuern?
Die Umfrage unter 850 Geschäftsführern und HR-Verantwortlichen alle Branchen liest sich als echter Weckruf. Offensichtlich zeigten die von Unternehmen, Ausbildungsinstituten und Politikern bisher angekündigten – oder nur eingeforderten – Maßnahmen keine nennenswerte Wirkung. Im Gegenteil, der Bedarf an qualifizierten IT- und Digitalisierungsspezialisten steigt weiter stark an. Laut Aussage von Bitkom-Präsident Achim Berg können sich qualifizierte Bewerber ihre neue Wirkungsstätte mittlerweile frei aussuchen. Viele Personalverantwortliche würden sich angesichts der Dringlichkeit aber immer noch auf den falschen Kanälen umsehen und teilweise noch auf überholte Bewerbungsprozesse (postalische Zusendung einer Bewerbungsmappe) bestehen. Dabei bremst der Mangel an IT-Experten bereits massiv und branchenübergreifend die digitale Transformation in Deutschland aus.
Fokus auf Bildung ist sinnvoll – reicht aber nicht. Soweit zur erschreckenden Datenlage – welche Gegenmaßnahmen schlägt der Branchenverband nun konkret vor? Zum einen fordert Achim Berg die Ausweitung der Studien- und Ausbildungsangebote im Bereich Informatik und Wirtschaftsinformatik – insbesondere die Begeisterung von jungen Menschen für diese zukunftsprägenden Fachrichtungen und dabei die spezifische Förderung von Frauen forcieren. Ein weiterer Aspekt, der im Resümee der Studie aufgeführt wird, ist die Forderung nach einem Ausklammern der Digitalbranche von den Neuregelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sowie die Notwendigkeit das Arbeitsrecht insgesamt flexibler und zudem praxisgerechter zu gestalten.
Diese beiden Ansätze sind in jedem Fall anzustreben, dennoch sind es nicht die Einzigen. Im Folgenden soll deshalb näher auf die Rolle von Remote Work – also die Zusammenarbeit »aus der Ferne« zum Beispiel mit Freelancern – als weiterer Lösungsansatz, eingegangen werden.
Remote Work, Home Office, Telearbeit – von Präsenzpflicht zur Vertrauensarbeit. In dem Beitrag von Bitkom erhält das Arbeitsmodell Remote Work bislang noch nicht die Berücksichtigung, die es eigentlich verdient. Das mag unmittelbar damit zusammenhängen, dass eine andere Studie des Verbandes belegt, dass die Akzeptanz des neuen Arbeitsmodells bei einer Vielzahl von Unternehmern und Angestellten derzeit noch nicht gegeben ist. Laut einer repräsentativen Umfrage unter 1.002 Berufstätigen in Deutschland ziehen 62 Prozent der Home-Office-berechtigten Angestellten die Arbeit im Büro der »Telearbeit« vor. Unterschiedlichste Gründe werden für diese Bevorzugung angeführt: Defizite im sozialen Austausch mit Kollegen (56 %), Notwendigkeit der persönlichen Anwesenheit (52 %) oder der Mangel an Produktivität (15 %). Nichtsdestotrotz fordern insgesamt 45 Prozent der Befragten einen gesetzlichen Anspruch auf Remote Work, 53 Prozent erwarten eine Zunahme der Vertrauensarbeit im Laufe der nächsten fünf Jahre. Wenn gewisse Vorbehalte ausgeräumt und das Prinzip hinter Remote Work wirklich verstanden wird, könnte dies ein sehr wirkungsvoller Schlüssel zur Lösung des IT-Fachkräftemangels sein.
1. Effizienteres Coding dank moderner Tools.
In der IT läuft der gesamte Wertschöpfungsprozess schon »von Natur aus« rein digital ab. Insofern bietet es sich in jeder Phase an, die verfügbaren Kommunikations-, Kooperations- und Qualitätsmanagement-Tools umfassend zu nutzen. Unkomplizierte und leistungsfähige Web-Meeting-Plattformen ersetzen mittlerweile größtenteils die ressourcen- und zeitaufwendigen Präsenztreffen. Unproduktive Commuting-Zeiten entfallen so weitgehend und dies führt zu mehr Zufriedenheit und Konzentration bei den Mitarbeitern. Neben diesen positiven Effekten äußert sich der Vorteil des dezentralen Arbeitens auch im Privatleben. Die Mitarbeiter sparen sich meist lange und nervenaufreibende Wege in das Büro. Die gewonnene Zeit führt nicht nur zu mehr Gelassenheit, sondern ermöglicht es Mitarbeitern auch, sich voll und ganz auf das Projekt zu fokussieren. Daten und Versionsstände können unproblematisch geteilt, Zeitunterschiede durch den Einsatz von ausgereiften Kollaborations- und Testing-Tools überwunden werden. Insbesondere bei ITlern ist Remote Work daher häufig effizienter als onsite.
2. Remote Work bedeutet nicht Vereinsamung!
Das Zerrbild vom Sachbearbeiter mit Headset im Schlafanzug am heimischen Küchentisch sollte schnell ad acta gelegt werden! »Remote« bedeutet nicht zwingend »Home Office«, umfasst diese Variante aber natürlich auch. Wo und wann ein IT-Experte seine Aufgaben erledigt, kann dem Projektleiter ziemlich egal sein – sofern die gemeinsam vereinbarten Ziele und Deadlines eingehalten werden. Viele ITler bevorzugen die ungestörte Atmosphäre ihres Arbeitszimmers, andere werden erst im Coworking-Space oder im Café nebenan richtig produktiv. Hier sollte jeder nach seiner Fasson glücklich werden können.
3. Kontrolle ist gut, Vertrauen und Teilhabe sind produktiver!
Körperliche Anwesenheit während der Kernarbeitszeiten bedeutet nicht notwendigerweise, dass produktiv gearbeitet wird, ganz im Gegenteil. Remote Work setzt hingegen primär auf Vertrauen – und führt nach Meinung von ausgewiesenen Experten, wie dem britisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Nicholas Bloom, zu wesentlich mehr Produktivität und weniger Krankheitsabwesenheit. Um die hohen Erwartungen der hervorragend ausgebildeten Digital Natives, die langsam in den IT-Arbeitsmarkt drängen, erfüllen zu können, sollten sich Arbeitgeber also von den Vorstellungen eines 9-to-5-Jobs endgültig verabschieden. Wenn der feste oder temporäre Arbeitgeber dem remote arbeitenden IT-Experten einen entsprechenden Vertrauensvorschuss einräumt, wird er aller Erfahrung nach auch mit konstruktiver Selbstständigkeit, überdurchschnittlicher Kreativität und einem Blick über den Tellerrand belohnt. Wertgeschätzte und mit Vertrauen ausgestattete IT-Experten werden von sich aus versuchen, eine übergreifende Sichtweise zu erlangen, damit sie ihre Arbeit nicht ständig doppelt und dreifach erledigen müssen.
Fazit. Remote Work wird sich früher oder später flächendeckend durchsetzen. Wer den dringend benötigten IT- und Digitalisierungsexperten jetzt schon vertrauensvoll und auf Augenhöhe entgegengeht und auch »Out of the Box« denkt, wird dem Fachkräftemangel wirkungsvoll entgegentreten können, da durch die Bereitschaft remote zu arbeiten auf einen deutlich größeren und globalen Pool an IT-Freelancern zurückgegriffen werden kann. Die neuen Arbeitsmodelle sind für gewisse Sektoren demnach keine Mitarbeiterbindungsmaßnahme, sondern Maßnahmen, die im »War of Talents« den Unterschied machen können.
Alexander Schlomberg,
Managing Director & Co-Founder,
expertlead
www.expertlead.com
Illustration: © ivector / shutterstock.com
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