Trotz Arbeitsmarktboom: Bei einem Viertel aller abhängigen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland werden Niedriglöhne von unter 10,80 Euro gezahlt

Anteil der Niedriglohnbeschäftigten stagniert seit 2008 bei etwa einem Viertel – Rund neun Millionen Beschäftigungsverhältnisse mit Niedriglöhnen, inklusive Nebentätigkeiten – Besonders junge Erwachsene, Frauen, MigrantInnen und Ostdeutsche erhalten überdurchschnittlich häufig Niedriglöhne – Neue Minijobregelungen, bessere Qualifizierung und offensivere Lohnpolitik können helfen, den Niedriglohnsektor einzudämmen

 

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Der Arbeitsmarkt boomt und die Arbeitsnachfrage ist hoch. Dennoch arbeitet etwa ein Viertel der abhängig Beschäftigten in Deutschland zu Niedriglöhnen. Dieser beachtliche Anteil ist im europäischen Vergleich einer der größten. Er schrumpft seit dem Jahr 2008 trotz der Dynamik am Arbeitsmarkt und der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 nicht, sondern bleibt in etwa konstant. Im Jahr 2017 bekamen rund acht Millionen abhängig Beschäftigte einen Niedriglohn für ihre Haupttätigkeit, beinahe drei Millionen mehr als im Jahr 1995. Das haben Markus Grabka und Carsten Schröder vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) basierend auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels ermittelt, und daraus Empfehlungen abgeleitet, um den Niedriglohnsektor einzudämmen. Dazu gehört eine Absenkung der Minijobverdienstgrenze.

 

Als Niedriglöhne werden Bruttostundenlöhne bezeichnet, die geringer als zwei Drittel des Medianstundenlohns aller Beschäftigten in Deutschland sind. Für die vorliegenden Berechnungen wurde der vereinbarte Stundenlohn verwendet. Für das Jahr 2017 betrug der Medianstundenlohn aller abhängigen Beschäftigungsverhältnisse rund 16,20 Euro und die Niedriglohnschwelle 10,80 Euro.

Somit lag der im Jahr 2015 eingeführte Mindestlohn (8,50 Euro die Stunde, im Jahr 2017 auf 8,84 Euro angehoben) unter der Niedriglohnschwelle. »Der Mindestlohn hat zwar dazu beigetragen, dass die Löhne im unteren Bereich der Lohnverteilung zumindest bis zum Jahr 2016 kräftig gestiegen sind, am Umfang des Niedriglohnsektors haben sie aber nichts Wesentliches verändert,« erläutert Markus Grabka.

 

Ein Drittel der abhängig Beschäftigten in Ostdeutschland erhalten Niedriglöhne

Die Analysen zeigen, dass in Beschäftigungsverhältnissen, die von Frauen, jungen Erwachsenen, Ostdeutschen und Migrantinnen und Migranten ausgeübt werden, überdurchschnittlich häufig Niedriglöhne gezahlt werden. So bekommen unter den abhängig Beschäftigten 30 Prozent aller Frauen, 56 Prozent der unter 25-Jährigen, 34 Prozent der Ostdeutschen und über 30 Prozent der Beschäftigte mit (direktem oder indirektem) Migrationshintergrund Stundenlöhne unter der Niedriglohnschwelle.

Zum ersten Mal konnten die DIW-Wissenschaftler bei den Lohnanalysen für 2017 auch detaillierte Informationen über Nebentätigkeiten heranziehen; bisherige Analysen hatten immer nur die Haupttätigkeiten berücksichtigt. Bei über 60 Prozent der Nebentätigkeiten wird ein Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle bezahlt, bei Minijobs ist es für drei Viertel der Arbeitsverhältnisse der Fall. Berücksichtigt man neben der Haupt- auch alle Nebentätigkeiten, so gibt es in Deutschland 2017 rund neun Millionen Arbeitsverhältnisse zu Niedriglöhnen. Einzelne Beschäftigte können dabei mehrere Arbeitsverhältnisse haben.

 

Mobilität am unteren Ende der Lohnverteilung gering

Mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors war die Hoffnung verbunden, dass niedrig entlohnte Jobs Arbeitslosen ein Sprungbrett in Beschäftigung bieten und dass sich diese Berufserfahrung später in höheren Löhne widerspiegeln würde. Inwiefern dies zutrifft, haben die Autoren untersucht, indem sie die Mobilität zwischen sechs Lohnsegmenten in Vier-Jahres-Zeiträume seit 1995 unter die Lupe genommen haben.

Insgesamt befand sich über die Hälfte der Beschäftigten über die Zeiträume hinweg drei Jahre später immer noch im ursprünglichen Lohnsegment. Betrachtet man nur den Niedriglohnbereich, so verharrten im Zeitraum 2014 bis 2017 beinahe zwei Drittel der Beschäftigten (62 Prozent) dort. Diejenigen, die eine Lohnverbesserung erfahren haben, sind mehrheitlich in das nächsthöhere Lohnsegment aufgestiegen (66,6 bis 90 Prozent des Medianlohns). Die Aufstiege in obere Lohngruppen betreffen zum großen Teil Personen, die während der Ausbildung oder des Studiums einfache Jobs ausgeübt haben und später in ihrem erlernten Beruf einsteigen und deutlich höhere Löhne erhalten.

»Dass der Niedriglohnsektor lediglich als Übergang oder gar als Sprungbrett gilt, erweist sich für die meisten als Illusion,« so Markus Grabka. »Vielmehr gibt es eine Niedriglohnfalle. Der Niedriglohnsektor, zu dem viele Minijobs gehören, sollte eingedämmt werden.« »Qualifizierungsmaßnahmen von Beschäftigten dürften hier ein Instrument mit nachhaltiger Wirkung sein« fügt Carsten Schröder hinzu.

 

Geringere Minijobverdienstgrenzen und offensivere Tarifpolitik sind gefragt

Die Autoren plädieren für eine Absenkung der Verdienstgrenze von Minijobs. Vor dem Hintergrund des boomenden Arbeitsmarkts ist zu erwarten, dass Minijobs dann in sozialversicherungspflichtige Teil- beziehungsweise Vollzeittätigkeiten umgewandelt werden. Die betroffenen Beschäftigten wären besser entlohnt, würden Sozialversicherungsansprüche erwerben sowie bessere Urlaubsansprüche oder Krankheitsfortzahlungen.

Daneben sollte eine offensivere Lohnpolitik betrieben werden. Die politischen Rahmenbedingungen müssen so geändert werden, dass die Gewerkschaften gestärkt werden und es verstärkt zu kollektiven Tarifvereinbarungen in nicht-tarifgebundenen Bereichen kommt, denn gerade im Niedriglohnsektor ist die Tarifbindung äußerst gering.

 

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