»Default Mode Network«: Was unser Gehirn macht, wenn wir scheinbar nichts tun

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Das »Default Mode Network« (DMN) ist eine Gruppe von Hirnregionen, die aktiv sind, wenn wir nicht mit unserer Umgebung interagieren – zum Beispiel beim Tagträumen. Beim Lösen von Aufgaben hingegen ist dieses Netzwerk weniger aktiv. Jülicher Forscherinnen und Forscher haben die Struktur und Funktion dieses Netzwerks mit Hilfe von Gewebeanalysen und modernen bildgebenden Verfahren untersucht. Dabei konnten sie mikrostrukturelle Unterschiede identifizieren, die beeinflussen, wie das DMN mit anderen Hirnregionen kommuniziert. Die Ergebnisse der Studie wurden im Fachmagazin Nature Neuroscience veröffentlicht.

 

Das DMN umfasst unter anderem den Parahippocampus, das Precuneus, den mittleren Temporallappen und Teile des Frontallappens – Hirnregionen, die an Gedächtnis, Selbstwahrnehmung und der Verarbeitung von Erinnerungen beteiligt sind. Es ermöglicht das sogenannte reizunabhängige Denken (engl. stimulus-independent thought) – also kognitive Prozesse, die nicht durch äußere Sinnesreize ausgelöst werden. Dazu gehören neben Tagträumen auch Zukunftspläne oder das Nachdenken über Vergangenes, Zukünftiges, über die eigene Persönlichkeit und über soziale Interaktionen. Auch kreative Ideen entstehen oft in diesen Phasen der inneren Reflexion.

Aber auch bei anspruchsvolleren Denkaufgaben spielt das DMN eine Rolle und kann unter bestimmten Umständen durch äußere Reize beeinflusst werden. Genau das stellte die Neurowissenschaftler vor ein Paradoxon: Wie kann ein Netzwerk, das für reizunabhängiges Denken bekannt ist, gleichzeitig auf Sinneseindrücke reagieren? Eine Antwort liefert die neue Studie: Denn das DMN ist kein einheitliches System, sondern besteht aus unterschiedlich aufgebauten Bereichen. Einige sind stark mit sensorischen Hirnregionen vernetzt und können durch äußere Reize – etwa Geräusche oder Gerüche – angestoßen werden. Andere Teile sind dagegen stärker abgeschirmt und ermöglichen introspektive Gedanken, die aus dem Inneren heraus entstehen.

 

Wie das DMN Informationen verarbeitet

Die Forscher vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1 und INM-7) fanden heraus, dass die Architektur des Gehirns nicht nur seine Struktur, sondern auch seine Funktion bestimmt – von einfachen Wahrnehmungsprozessen bis hin zu komplexen kognitiven Leistungen. Die Erkenntnisse liefern wertvolle Hinweise darauf, warum manche Gedanken stark von Sinneseindrücken beeinflusst werden – etwa wenn ein bestimmter Duft Erinnerungen weckt oder ein Lied Emotionen hervorruft – und wie das DMN solche Reize in unsere innere Gedankenwelt übersetzen kann.

Die stark geschichteten Bereiche ähneln in ihrer Architektur den sensorischen Arealen des Gehirns, die für die Verarbeitung von Sinneseindrücken wie Sehen und Hören zuständig sind. Wie diese Areale bestehen auch sie aus mehreren spezialisierten Zellschichten, die unterschiedliche, komplexe Aufgaben übernehmen können. Einige Schichten empfangen Signale aus anderen Hirnregionen, andere sind für die Weiterleitung oder Verarbeitung dieser Informationen zuständig. Diese Organisation ermöglicht eine bessere Vernetzung mit anderen Hirnarealen und eine effizientere Verarbeitung von Sinnesinformationen.

Das erklärt, warum das DMN dann aktiviert wird, wenn äußere Reize wie Gerüche oder ein Lied Erinnerungen oder Emotionen auslösen. Die weniger geschichteten Bereiche sind hingegen stärker in sich geschlossen und weniger von der Außenwelt beeinflusst. Sie unterstützen introspektive Gedanken wie Tagträume oder Selbstreflexion, die durch interne Prozesse angestoßen werden.

 

Zwei Methoden für neue Erkenntnisse

Um die Struktur und Funktion des DMN genauer zu untersuchen, kombinierten die Forschenden zwei Methoden: detaillierte Gewebeanalysen verstorbener Personen und moderne bildgebende Verfahren bei lebenden Menschen.

Für die Gewebeanalysen wurden dünne Hirnschnitte unter dem Mikroskop untersucht. So wurden feine mikrostrukturelle Details sichtbar – zum Beispiel, wie die Nervenzellen in verschiedenen DMN-Regionen angeordnet sind, wie stark sie geschichtet sind und wie sie untereinander sowie mit anderen Hirnregionen vernetzt sind.

Bei den MRT-Scans am lebenden Menschen haben die Forschenden mit einer nicht-invasiven Methode die Struktur untersucht und die Aktivität des Gehirns gemessen, ohne dass ein Eingriff nötig war. So konnten sie sichtbar machen, welche Regionen des DMN besonders aktiv sind und wie sie mit anderen Hirnregionen kommunizieren.

Der Schlüssel lag in der Kombination dieser Methoden. Normalerweise können mit MRT allein keine so feinen Details der Gehirnstruktur erkannt werden. Durch den Vergleich mit echten Gewebeproben wurde jedoch sichtbar, dass bestimmte Muster der Nervenzellorganisation auch in lebenden Menschen eine Rolle spielen. Dadurch konnten die Wissenschaftler:innen nachweisen, dass bestimmte mikrostrukturelle Muster – wie die Schichtung der Nervenzellen – direkten Einfluss darauf haben, wie Informationen innerhalb des DMN verarbeitet und weitergeleitet werden. Zudem zeigte sich, dass sich viele dieser in Gewebeproben gefundenen Muster auch im lebenden Gehirn nachweisen lassen.

 
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