Forscher: »Trend zu permanenter digitaler Bewertung«

WENN BESCHÄFTIGTE ÄHNLICH WIE KÄUFE IM ONLINE-SHOPPING GERANKT WERDEN – NEUE STUDIE UNTERSUCHT SOFTWARE BEI ZALANDO.

 

Die Digitalisierung bietet Arbeitgebern nie gekannte Möglichkeiten der Kontrolle. Ein Beispiel für eine Technik mit hohem Druckpotenzial ist laut einer neuen Untersuchung Zonar – eine Software, die der Online-Versandhändler Zalando seit dreieinhalb Jahren nutzt, um Mitarbeiter zu bewerten. Wie genau diese Technologie funktioniert und wie sie sich auf die Beschäftigten auswirkt, haben Prof. Dr Philipp Staab und Sascha-Christopher Geschke von der Humboldt-Universität zu Berlin in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie untersucht. Ihr Befund: Zonar stehe für ein »sehr umfassendes, quasi panoptisches System der Leistungskontrolle«. Das Betriebsklima leide, der Stress nehme zu, konstatieren die Wissenschaftler auf Basis von Interviews mit Beschäftigten. Es bestünden Zweifel, ob der Datenschutz eingehalten wird. Zudem scheine der Einsatz dieser Software nicht einmal aus betriebswirtschaftlicher Sicht besonders sinnvoll zu sein.

 

Zonar kommt in den Büros des Versandhändlers in Berlin zum Einsatz. Dort arbeiten circa 2000 Beschäftigte. Um ein Bild von der Funktionsweise dieser neuen Technologie zu gewinnen, haben die Soziologen einen explorativen Zugang gewählt: über Interviews mit zehn Beschäftigten sowie zwei Gruppendiskussionen, über die Auswertung von Präsentations- und Schulungsmaterialien und über Gespräche mit Experten für Arbeitsrecht und Datenschutz. Anfragen der Forscher beim Management des Unternehmens wurden abgewiesen. Staab und Geschke bedauern diesen Umstand in ihrer Studie, da ihnen eine noch genauere Beschreibung der Technologie so verwehrt geblieben sei. Dennoch sei es gelungen, so die Wissenschaftler, »umfangreiche Rückschlüsse aus drei Jahren der Anwendung« der Software zwischen Frühjahr 2017 und Sommer 2019 zu gewinnen.

 

Beschäftigte konstatieren »Kultur totaler, einseitiger Transparenz«

Zonar orientiert sich nach Analyse der Forscher weitgehend am Vorbild von Bewertungsportalen im Internet. In diesem Fall sind es jedoch nicht wie üblich Kunden, die ein Produkt bewerten, sondern die Beschäftigten selbst, die sich gegenseitig evaluieren. Die Beurteilungen erfolgten abteilungsübergreifend und teilweise über Hierarchieebenen hinweg, allerdings werden im Regelfall vor allem Kollegen aus dem alltäglichen Arbeitsumfeld bewertet. Neben den sogenannten Echtzeitratings, die jederzeit vergeben werden können, finden in regelmäßigen Abständen umfangreiche Leistungs- und Entwicklungseinschätzungen statt – einerseits durch Kollegen, andererseits durch den direkten Vorgesetzten. Die befragten Beschäftigten geben an, dass sie etwa drei bis 15 Minuten für jedes Echtzeitrating aufgewendet hätten, während die – zunächst jährlichen, später halbjährlichen – Leistungs- und Entwicklungseinschätzungen circa ein bis drei Stunden pro Person in Anspruch genommen hätten. Auf Basis der gesammelten Informationen erstellt laut der Studie ein Algorithmus individuelle Beschäftigten-Scores, die wiederum der Einteilung der Belegschaft in drei Gruppen dienten: Low-, Good- und Top- Performer. Diese Rangliste nutze das Unternehmen, um Mitarbeitergespräche zu strukturieren, Beförderungen zu verteilen und gruppenspezifische Lohnsteigerungen zu gewähren beziehungsweise zu versagen, berichten die Soziologen. Der gesamte Bewertungsprozess vollziehe sich über einen Zeitraum von mehreren Monaten, bevor er wieder von neuem losgeht.

 

Vonseiten des Managements werde Zonar als ein Instrument beworben, das Transparenz schaffen und Beteiligung ermöglichen soll, so Staab und Geschke. Es solle den Beschäftigten helfen, die eigene Leistung besser einschätzen zu können, was dann angeblich der Karriereplanung dient. Nach Ansicht der Forscher hat diese Darstellung jedoch wenig mit der Realität zu tun: Zwar sei die Geschäftsführung »sehr bemüht, eine Außenwahrnehmung zu erzeugen, die suggeriert, dass das Unternehmen auf Mitbestimmung, Transparenz und Fairness fußt«. Gleichwohl legten die konkreten Erfahrungen der Beschäftigten die Deutung nahe, dass es sich bei Zonar um ein Mittel zur verschärften Kontrolle handelt. Im Prinzip werde jeder Beschäftigte dazu angehalten, permanent Aufzeichnungen zum Verhalten der Kollegen anzufertigen. Die Beschäftigten hätten zunehmend den Eindruck, in »eine Kultur totaler, einseitiger Transparenz gezwängt« zu werden, heißt es in der Studie.

 

»Die Visualisierung der eigenen Leistung nach für alle Beschäftigten vermeintlich gleichen Bedingungen suggeriert Vergleichbarkeit. Dies verstärkt die Wahrnehmung einer Konkurrenzsituation unter den Beschäftigten, was wiederum Leistungsdruck, Selbstdisziplinierung und Stress erzeugt«, kritisieren die Forscher. Tatsächlich seien die Beurteilungen alles andere als objektiv – der Spielraum für Willkür sei unüberschaubar. Schließlich fließe das gesamte Verhalten beziehungsweise die gesamte Persönlichkeit mit in die Bewertung ein, nicht nur die messbare Leistung.

 

Für problematisch halten die Wissenschaftler auch die Methodik, nach der die Bewertungen zustande kommen und Daten erhoben werden. Dadurch, dass ein Teil der abgegebenen Feedbacks negativ sein müsse, werde notwendigerweise ein Bild erzeugt, das zum Nachteil der Angestellten ausgelegt werden könne. Zudem sehen die Wissenschaftler Indizien, dass das System darauf ausgelegt sei, die Anzahl der Top-Performer systematisch gering zu halten. In einigen Abteilungen würden nach Kenntnis der Forscher lediglich zwei bis drei Prozent der Beschäftigten als Top-Performer eingestuft. Doch nur als solcher qualifiziere man sich für Lohnerhöhungen. Die Masse der Good-Performer erhalte dagegen lediglich einen jährlichen Inflationsausgleich, was nichts anderes sei als Lohnstagnation. »Zonar ist darauf angelegt, eine spezifische Struktur sozialer Ungleichheit innerhalb der Belegschaft herzustellen, die dann das Entgeltgefüge im Unternehmen strukturiert«, schreiben Staab und Geschke.

 

Unmut äußerten befragte Beschäftigte außerdem darüber, dass die erhobenen Informationen ohne formale Einwilligung gespeichert und dem Unternehmen dauerhaft verfügbar gemacht würden. Spätestens mit dem Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung (kurz DSGVO), schätzen die Wissenschaftler, hätte es wahrscheinlich einer formalen Information über die Datenschutzregelungen im Unternehmen bedurft, die auch Zonar betroffen hätte, da die Bewertung von einzelnen Menschen zwangsläufig eine Verarbeitung von personenbezogenen Daten beinhaltet.

 

Forscher: Online-Händler sind Vorhut für breiteren Trend

Nach Ansicht der Wissenschaftler stellt das, was sie bei Zalando beobachtet haben, den Anfang einer neuen Entwicklung dar: »Zonar bildet in unseren Augen einen Fall, an dessen Beispiel sich verschiedene Dynamiken, die die Arbeitswelt der Gegenwart prägen, wie unter einem Brennglas bündeln.« Im Kern gehe es darum, Mitarbeiter permanent bewerten, kontrollieren und sanktionieren zu können, und zwar mithilfe moderner digitaler Technologien. Apps und Algorithmen evaluierten sowohl die Leistung von Beschäftigten als auch die Qualität ihrer Arbeit. Dass Online-Händler wie Amazon oder eben Zalando dabei die Vorhut bildeten, ist laut Staab und Geschke kein Zufall. Schließlich ließen sich die Rating-Tools, die in diesen Unternehmen nun zur Kontrolle der Belegschaft eingesetzt würden, als »das nach innen gewendete Spiegelbild jener Produkt- und Consumerratings verstehen, welche integraler Bestandteil des Online-Handels sind«.

 

Die Forscher haben allerdings Zweifel, ob sich Zonar für Zalando überhaupt auszahlt. Das System sei mit hohem Aufwand verbunden und erzeuge zahlreiche nicht-intendierte Effekte, heißt es in ihrer Studie. Dazu zählen etwa eine Verschlechterung des Betriebsklimas, größere psychische Belastungen, Bummelstreiks und andere Praktiken des verdeckten Widerstands sowie die Kündigung einzelner Arbeitnehmer. »All dies sind letztlich Faktoren, die der Produktivität der Mitarbeiter schaden – ganz zu schweigen von dem Umstand, dass Zonar einen nicht zu vernachlässigenden Teil ihrer Arbeitszeit verschlingt.«

https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_429.pdf

 

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